Das Gesicht

Als ich sie das erste Mal sah, lag dichter Frühnebel über den Feldern, dicht an Waldes Rand.

Zuerst waren nur dunklere, wabbernde Schemen im blassgrauen Morgenlicht zu erkennen. Nur allmählich tauchte, peu 'a peu, ein deutlicherer Umriss aus dem diffusen Zwielicht. Kleine Silhouette, oder nein, sie war an Größe und Statur der meinen nicht unähnlich.

Gerade gestern hatte meine Therapeutin eindringlich und zum wiederholten Male geraten, mir die Menschen, die mir begegnen, doch genauer oder überhaupt einmal anzusehen. Und nicht, wie für mich typisch, mit gesenkten Schultern und gesenktem Blick zügig, ängstlich und unsichtbar an ihnen vorbei zu eilen.

Meine Neugierde war jetzt gänzlich geweckt.

Wer war zu dieser frühen, ungastlichen Stunde ebenfalls schon unterwegs? Wollte dieser Mensch auch eine durchwachte Nacht hinter sich lassen?

Meine Neugierde stieg und wurde durch ein merkwürdiges, unklares Gefühl noch verstärkt.

Dann trennten uns nur noch wenige Meter. Wer würde mir, wie aus einem milchigen Spiegel steigend, gegenübertreten?

Das Erste, was ich genau sah, waren ungewöhnliche, leuchtend grünen Augen. Sie leuchteten wie kleine Irrlicher, die im Moor mit einem unachtsamen Wanderer Schabernack treiben und ihn in die Irre führen können.

Dann erst tauchten klarere Umrisse eines Gesichts aus dem Nebel. Herzförmig war es. Seine Kontur, nicht mehr ganz so fest und scharf geschnitten, gehörte doch unzweifelhaft einer Frau.

Ein altes Gesicht, und dennoch, magisch schön.
Wie das unbekannte Antlitz eines lange schon verstorbenen, schönen Kindes, festgehalten durch die Künstlerhand eines alten Meisters. Wären nicht die vielen feinen Linien, die, ihrer Geschichte folgend, wie feiner Spinnweb ihr Gesicht zeichneten. Das kleine, ein wenig spitze Kinn wirkte energisch und durchsetzungsfähig. Wie oft war es wohl auf Widerstand gestoßen? Oder hatte seine Trägerin steht's ein leichtes Spiel?

Viele der zarten Striche zeugten von Lachen und Leben.

Wie alt mag sie wohl sein, dachte ich noch, da ertönte, mit schöner Altstimme, ihr Morgengruß. Gut, dachte ich, so bleibt mir vielleicht ein wenig mehr Zeit um die frühe Spaziergängerin noch ein wenig genauer zu betrachten.

So erwiderte ich herzlich ihren Gruß um ein oberflächliches Gespräch zu beginnen und meine Gedanken kehrten still zu meinen Beobachtungen zurück.

Eine kleine, aristokratische Nase und wenige, winzigkleine Sommersprossen, die ihre durchscheinend schöne Haut mit Leben füllten. Wie selten sieht man eine solch makellose Haut.

Ihre Lippen kräuselten sich beim Sprechen und waren immer noch voll und von natürlichem Rot gefärbt. Ihre Wangenknochen waren hoch, vielleicht ein wenig slawisch und ebenfalls durch eine natürliche Färbung wundervoll betont.

Ihre Augenbrauen waren nicht mehr einheitlich tiefbraun, aber sie zeugten, ebenso wie ihr halblanges, leicht gewelltes Haar, von einstiger Schneewittchenfarbe. Eine kleine, fast unsichtbare Narbe durchbrach den klaren Schwung ihrer Braue und gab ihrer Trägerin etwas verwegenes, temperamentvolles.

Ohne Ponyfransen lockte sich ihr Haar bis auf Kinnhöhe. Dies bildete einen würdigen, wunderbaren Rahmen für dieses aparte Gesicht.

Ihre leuchtenden, jetzt mild weise blickenden Augen wurden von einem dichten Kranz Wimpern in Szene gesetzt.

Obwohl alles an ihr zeitlos schön schien, waren diese Augen sicherlich ihr schönstes Attribut. Ich konnte erkennen, dass sie wohl etwas nachgeholfen und ihre natürlichen Wimpern mit Nerzhaar hatte ergänzen und auffüllen lassen.

Plötzlich blickte sie mir nachdenklich und ungewöhnlich tief in die Augen, so dass meine stille und andächtige Betrachtung ein jähes Ende fand.
Meine Aufmerksamkeit kehrte zu unserem seichten Gespräch zurück, nur war es in der Zwischenzeit nicht mehr ganz so oberflächlich oder gar belanglos geblieben!

Wie hatte sie das gemacht?
Wie hatte sie es geschafft, in meiner versunkenen Betrachtung ihrer Äußerlichkeit, mir tief Verschlossenes zu entlocken und mit ihrem Schicksal abzugleichen? Und, in Windeseile, Parallelen zu finden und zu verknüpfen?
Viel hatten wir gemein, wie seltsam war das doch und passend zu meinem eigenartigen Gefühl des ersten Sehens.

Langsam wurde der Nebel um uns dichter, dunkler, gespenstiger und wir entschieden, jede ihren Weg fortsetztend, weiter zu laufen. Obwohl wir einander doch fremd waren, verabschiedeten wir uns mit einer für mich ungewohnten, herzlichen Umarmung und den besten Wünschen mit auf den Weg.

Dann, nach wenigen Metern, hatte uns der Nebel erneut für einander unsichtbar gemacht und selbst unsere Tritte blieben ohne Echo.

Ich bin ihr nie wieder begegnet.

Gleichwohl wir sie, in meiner Erinnerung an diesen Tag, für immer alterslos schön und lebendig sein.

Ein Kometenmensch, eine Seelenverwandte.