Nietzsche und das Pferd: Zusammenbruch und Wahnsinn
Friedrich Nietzsche, einer der einflussreichsten Philosophen der Geschichte, ist vor allem für seine scharfsinnigen Analysen und radikalen Ideen bekannt. Sein Leben nahm ein tragisches Ende, das symbolisch in einer schicksalhaften Szene in Turin gipfelte: der Umarmung eines misshandelten Pferdes. Dieser Moment markierte den Beginn seines geistigen Zusammenbruchs.
Der Vorfall in Turin
Am 3. Januar 1889 wohnte Friedrich Nietzsche in der Via Carlo Alberto 6, einer Pension im Herzen von Turin. An diesem Tag soll er auf der Piazza Carlo Alberto beobachtet haben, wie ein Kutscher sein Pferd brutal mit einer Peitsche schlug. Tief erschüttert lief Nietzsche zum Tier, legte die Arme um dessen Hals und brach weinend zusammen. Zeitzeugen berichten, dass er unverständliche Worte murmelte, bevor er von Passanten zurück in seine Unterkunft begleitet wurde. Dies war der Beginn eines völligen geistigen Zusammenbruchs.
Die Einweisung in die Psychiatrie
Wenige Tage später verschlechterte sich Nietzsches Zustand weiter. Freunde, darunter der Theologe Franz Overbeck, eilten nach Turin, um ihn zu versorgen. Man brachte Nietzsche nach Basel und von dort in die psychiatrische Klinik in Jena, die damals unter der Leitung von Otto Binswanger stand. Dort diagnostizierten die Ärzte eine »progressive Paralyse«, die häufig mit einer fortgeschrittenen Syphilis in Verbindung gebracht wird.
Hintergrund: Nietzsches Gesundheit
Nietzsche war nicht plötzlich erkrankt. Bereits in den 1880er-Jahren litt er unter starken Migräneanfällen, Sehstörungen und chronischer Schlaflosigkeit. Diese körperlichen Leiden wurden von Einsamkeit und Isolation begleitet, da er keinen festen Wohnsitz hatte und meist allein in kleinen Pensionen lebte. Viele seiner Werke, darunter Also sprach Zarathustra, schrieb er in dieser Zeit in völliger Abgeschiedenheit. In seinem Gedicht »Vereinsamt« aus der Sammlung Lieder des Prinzen Vogelfrei beschreibt er eindringlich:
»Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem, der – jetzt noch Heimat hat!«
Das Gedicht reflektiert nicht nur Nietzsches Gefühl des Verlassenseins, sondern auch die düstere Stimmung seiner späten Schaffensperiode. Diese Einsamkeit, kombiniert mit einer obsessiven Arbeitsdisziplin, führte ihn letztlich an die Grenzen seiner physischen und psychischen Belastbarkeit.
Die vermutete Syphilisinfektion, die Nietzsche möglicherweise in seiner Jugendzeit in einem Bordell in Leipzig erlitten haben könnte, verschlechterte seinen Zustand über Jahre hinweg. Ihre neurologischen Folgen, darunter Persönlichkeitsveränderungen und Halluzinationen, könnten eine Erklärung für seinen späteren Wahnsinn sein.
Die Szene als Symbol
Die Umarmung des Pferdes wird oft als Symbol für Nietzsches Mitgefühl interpretiert. In seinen Schriften propagierte er die Überwindung von Schwäche und die Stärke des »Übermenschen«, doch dieses Ereignis zeigt eine ganz andere Seite: einen Menschen, der die Grausamkeit der Welt nicht ertragen konnte.
Das Pferd, gezeichnet von Ausbeutung und Gewalt, steht für viele Interpreten symbolisch für Nietzsche selbst. Wie das Tier war auch er ein »Lastträger« – ein Mann, der unter der Bürde seiner Ideen und der Härte der Welt zusammenbrach.
Ein Nachhall im Wahnsinn
Nach seinem Zusammenbruch verbrachte Nietzsche die letzten elf Jahre seines Lebens in geistiger Umnachtung. Zunächst wurde er in Jena behandelt, später nahm ihn seine Mutter Franziska Nietzsche in ihrem Haus in Naumburg auf. Nach ihrem Tod 1897 übernahm seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche die Pflege und brachte ihn in die Villa Silberblick in Weimar, wo er am 25. August 1900 starb.
Elisabeth Förster-Nietzsche spielte eine entscheidende Rolle in der Nachwelt ihres Bruders. Sie editierte und veröffentlichte seine Werke, allerdings oft mit erheblichen Veränderungen, die Nietzsches Gedanken in nationalistische und rassistische Richtungen lenkten – eine Verzerrung, die sein Werk lange überschattete.
Die Tragik eines Genies
Die Szene in Turin erinnert uns daran, dass auch die größten Denker nur Menschen sind – verletzlich, leidend und nicht immun gegen die Grausamkeiten des Lebens. Sie zeigt die Tragik eines Mannes, der die Welt verändern wollte und letztlich an ihr zerbrach. Gleichzeitig bleibt sie ein Sinnbild für Mitgefühl und die Widersprüche eines Genies, dessen Leben und Werk bis heute faszinieren.
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