Ruth - Page 37

Bild von Lou Andreas-Salomé
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zu Hause. Vielleicht mit Beteiligung Erwachsener. Ich weiß noch nicht, wie.«

Sie sah ihn voll Interesse an.

»Das ist gut!« sagte sie eifrig und nickte, »je mehr, desto besser. Aber alle werden nicht kommen dürfen, und manche werden bald wieder fortbleiben. Daß die Braut da ist, nimmt vielen die Lust zu so etwas fort.«

»Die Braut?«

»Ja. Denn da denken sie nun, so schön könnten sie's jetzt bald alle kriegen. Und dann hat ja all das andre keinen rechten Zweck mehr, meinen sie. Denn sie finden: Braut sein, das sei doch das Allerhöchste. Darüber haben wir uns vorgestern im Schulhof unterhalten.«

Erik blickte auf sie.

»So? Und was hast denn du dazu gemeint? Hast du auch gefunden, daß es das Allerhöchste sei und daß dann all das andre keinen rechten Zweck mehr habe?«

»Ich? Das kann ich ja gar nicht wissen. Wie soll ich wissen, wie's dann ist? Aber ich brauch' es doch auch gar nicht zu wissen. Denn ich kann niemals Braut werden,« sagte Ruth.

Das Wort erschütterte ihn in seiner nervösen Erregung. Er war so betroffen, daß er nicht gleich antworten konnte. Dann entgegnete er: »Wie kommst du auf diesen wunderlichen Gedanken? Wo hast du diesen Einfall her? Du bist ein Kind, das nichts davon voraussehen kann, wie sich sein zukünftiges Leben gestalten mag. Und deine Phantasie soll nicht damit spielen. Du sollst nicht damit spielen!« wiederholte er mit plötzlichem, unmotiviertem Zorn. »Sage mir, wie du darauf gekommen bist.«

»Es ist von selbst gekommen,« sagte sie einfach, »ich habe nicht damit gespielt. Es ist gekommen, weil ich wußte: um Braut zu werden, muß man einen lieb haben. Und das kann ich ja nicht mehr. So lieb kann ich in der ganzen Welt nie mehr jemand haben.«

»Wie lieb, Ruth?«

Seine Stimme klang gedämpft und heiser.

Sie sah ihn an mit ihrem offnen naiven Kinderblick. Noch nie meinte er eine solche Unschuld und Treuherzigkeit in einem Menschenblick gesehen zu haben.

»So lieb wie Sie,« sagte Ruth.

Erik machte eine kurze Bewegung und, niederblickend, schob er die Hopfenranken zur Seite, die sich überall festnestelten und anklebten. Die linke Hand, die in der Seitentasche seiner Joppe lag, ballte sich zur Faust.

Ruth betrachtete ihn unverwandt, aber sie verstand nicht den Ausdruck, der über sein Gesicht ging.

Da, als Erik fast furchtsam aufschaute und die fragenden Augen vor sich sah, durchzitterte es ihn. Ihm kam es vor, wie wenn dieser eine Blick und Augenblick über ihn entscheide.

Er beugte sich etwas vor, ergriff Ruths Hände und bedeckte damit seine Augen.

»Weißt du, Mädel,« sagte er halblaut, »wenn du groß bist, – denn jetzt bist du doch nur erst ein kleines Mädel, – aber wenn du längst eigne und reife Vorstellungen gewonnen hast über alle diese Dinge und viele andre noch, – dann – dann sollst du noch einmal zu mir kommen und mir sagen können: daß du mich lieb behalten hast. Und daß du von mir – von mir dein Bestes hast. Dein Eigenleben und deine Entwicklung. Deinen Glauben an deinen Selbstwert und den Glauben an den Wert der Menschen. Wer du dann bist, Ruth, das wissen wir beide nicht; wer ich dann bin, das weiß ich ja wohl: ein alter Mann. Aber ein alter Mann, der dafür gelebt hat, daß du, Mädel, ihm bleiben darfst, was du ihm heute bist: sein Stolz, sein Werk, sein Kind und seine höchste Hoffnung.«

Und er ließ ihre Hände los und verließ das Zimmer.

Ruth stand noch draußen am Fenster. Sie hatte die Arme aufgestützt und blickte ihm regungslos mit ernstem Gesichte nach.

*

An einem der nächsten Tage um die Mittagsstunde füllte eine bunte Menschenmenge den großen Mädchenschulsaal. Eltern und Angehörige der Kinder, eine Flut von Neugierigen aus den obern Gesellschaftsschichten und viele, die Erik reden hören wollten, von dem die Mädchen zu Hause so viel erzählten.

Er stand auf der Tribüne im Hintergrunde des Saales und sprach zu ihnen und ihren Kindern; er erwähnte den Vorschlag, den ihm seine Klasse gemacht hatte, die Gemeinsamkeit des Lebens und Arbeitens über die Schule hinaus zu erstrecken, und knüpfte daran seinen Lieblingsgedanken von der Notwendigkeit einer reichern Weiterentwicklung für die Frau, als sie ihr die Gegenwart außerhalb der Schuljahre gewähre. Von der Möglichkeit, eine lebensvollere, geisteskräftigere Zukunft herauszuführen, sprach er ihnen, und von der Zukunft der Frau, die, erst geahnt und nur halb enthüllt, noch vor ihr liege, wovon sie aber Besitz ergreifen könne in allem, was ihr Wesen der innern Entfaltung und Vollendung näherbringe.

Und während er sprach, dachte er an Ruth, der er nicht erlaubt hatte, mitzukommen, denn im Grunde war sie es ja, von der er redete, zu der er redete. Sie war es ja, die in ihm die Lust wieder weckt hatte, zu den Menschen zu reden, und die Menschen für ihn suchte, wie man für einen Armen Brot sucht, damit er seinen Hunger stille. Und was er seinen Menschen gab, entnahm er ihr: denn das Höchste, was er von ihr erhoffte, das Schönste, was er sich in ihr träumte, legte er seinem Zukunftsbild unter, und dann erhob und verklärte er es zu allgemeinen Formen.

Es war, wie wenn er von den gebannten Menschenaugen eine überlebensgroße Gestalt aufrichtete, durch deren Größe die individuellen Züge unerkennbar wurden. Zu groß, sicherlich, für das wirkliche Leben, aber von einer Fülle und Wärme der Farben, die unwillkürlich mit fortriß und sich dem weiblichen Teil unter den Zuhörern gewaltig einprägte.

So stand denn Erik da und hielt eine Art von Selbstverteidigung seiner Liebe, und die tiefe Bewegung, die in ihm war, verlieh einem jeden seiner Worte eine eigentümliche Wucht.

Unter der Menge im Zuschauerraum befand sich auch Warwara, wie sie ihm vorhergesagt hatte. Sie blickte voll Interesse auf ihn. Ihr schien, als sähe sie vor ihren Augen entfesselt und entfaltet, was sie mit ihrem feinen Instinkt schon immer dunkel und undeutlich geahnt hatte, wenn sie mit Erik zusammen gewesen war: daß er Gewalt über Menschenseelen besaß, und daß er in Hunger und Sehnsucht nach ihnen lebte. Es war also das, was sie zu gleicher Zeit so seltsam an ihm anzog und von ihm abstieß, – das, was sie koketter erscheinen ließ, als sie war. Ihr fiel die Szene in seiner Stadtwohnung ein. Ja, ein

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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