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ruiniert und schließlich selbst in Haft genommen werden muß. Das kann in letzter Konsequenz zu einem Zusammenbruch des ganzen Produktions-Systems führen, da unter dieser Bedingung die Willigkeit des freien Menschen rapide abnimmt. Deshalb wird das Produktions-System schließlich den Kostensatz der individualisierten Lagerung als dem Menschen zustehendes Versorgungsanrecht einführen. Dieser Kostensatz muß so niedrig liegen, daß er den freien Menschen nicht dazu verführt, freiwillig in das Fernseh-Lager überzuwechseln. Das wird der freie Mensch nur dann tun, wenn er sich über den individualisierten Lager-Kostensatz hinaus zusätzliche Versorgungsbeiträge – meist innerhalb seiner Herkunftsgruppe - erschließen kann.
Der im Umfeld der Versorgungs-Institutionen des freien Menschen nicht individualisierbare Häftling muß letzten Endes aus dem Umgang mit dem freien Menschen entfernt und einer öffentlichen Lagerung zugeführt werden. Der Häftling ist damit nicht mehr dem Druck ausgesetzt, den Phantasien des freien Menschen über ihn aus eigenen Anstrengungen zu entsprechen. Die Phantasien des freien Menschen über ihn als nicht individualisierbarem Häftling werden ihm nun ohne eigenes Zutun aufgeprägt – und indem er sie annimmt, bringt ihn das erstmals, und in der Folge seine Mithäftlinge, zu realer Existenz. Die reale Hölle des verlorenen Individualisierungsstatus im öffentlichen Lager befreit ihn aus dem Trommelfeuer der Fernseh-Formierung. Problematisch daran ist, dass er die Abnahme des Druckes durch die Annahme der Phantasien des Fernsehens über ihn als nicht individualisierbarem Häftling bewusst oder unbewusst zum Beweis nimmt, wirklich wahnsinnig, kriminell und hoffnungslos süchtig zu sein. Endzweck der Fernseh-Phantasie über den nicht individualisierbaren Häftling ist dessen Selbstliquidation aus schuldbewußter Selbsterkenntnis.
Es geht für den nicht individualisierbaren Häftling darum, welchen öffentlichen Lagers er sich zwecks seiner Versorgung bedienen soll, Krankenhaus, Psychiatrie, Haftanstalt. Zwar wird ihm im öffentlichen Lager in jedem Augenblick der dreißigfache Kostensatz im Vergleich zur individuellen Lagerung vorgehalten, aber er hat in ihm die Chance, sich vom fernsehgesteuerten selbstverachtenden Anpassungsdruck an das Produktions-System zu lösen und in einer neuen Art von Staatsfeindschaft ein trotzig-kindliches Selbstbewusstsein im Kreis seiner Mithäftlinge zu entwickeln. Da das Lager im erschlossenen Land aber kein eigenes Produktions-System hat wie der alte Lager-Staat, ist die Staatsfeindschaft des nicht individualisierbaren Häftlings im erschlossenen Land nicht mehr gegen den Lager-Staat gerichtet, sondern gegen das die ganze kosmische Natur usurpierende, endsiegreiche Produktions-System des freien Menschen selbst. Der nicht individualisierbare Häftling strebt also im Grunde die Rückkehr des ganzen erschlossenen Landes in die Natur an. Dieser weltschöpferische Größenwahn des nicht individualisierbaren Häftlings ist der zentrale Kern seiner Krankheitsdiagnose.
Die radikale, seine und des freien Menschen Lebensmöglichkeit gefährdende Staatsfeindschaft des nicht individualisierbaren Häftlings ist neben dem Kostenfaktor der Hauptgrund, dass das Lager im erschlossenen Land über kurz oder lang vom Produktions-System liquidiert werden muß. Wenn der Häftling erkennt, dass seine Staatsfeindromantik dem Produktions-System gilt, das dem freien Menschen gehört und nun nicht mehr sein eigenes ist, das ihn aber trotzdem noch versorgt, und dass das Produktions-System ihn in letzter Konsequenz als Kostenfaktor beseitigen muß, hilft ihm nur noch die Individualisierung seines Selbsterhaltungstriebs bei der Überwindung seines Schuldgefühls, ohne Arbeit vom Produktions-System des freien Menschen versorgt zu werden. Die Solidarität mit der Häftlingsgemeinschaft bedeutet in dieser Phase Selbstliquidation.
So wie der freie Mensch nichts über das Lager weiß und wie es dem Häftling nur selten gelingt, mutig mit dokumentarischer Genauigkeit und epischer Kraft dem freien Menschen durch dessen Phantasien hindurch über die Krankheit und Staatsfeindschaft des Häftlings zu berichten, was hinsichtlich des Lager-Staates dem großen russischen Schriftsteller Solschenyzin gelungen ist, so wenig weiß der freie Mensch über das Elend der individuellen Lagerung des Häftlings im Fernsehen. Die Wahrheit über das Lager kann nur berichten, wer seine Seele darin großgezogen hat und es dafür segnet, dass es in seinem Leben gewesen ist. Er berichtet immer auch im Gedenken an die, die nicht genug Leben dazu haben. Aber alles, was ihm gelingt, ist, nur ein Guckloch im Zaun dieses schrecklichen Universums für den freien Menschen zu öffnen. Bericht aus dem Lager ist Forschung im Umkreis verschwundener und verfälschter Akten und Kampf gegen die potjemkinschen Phantasien des freien Menschen über das Leben des Häftlings. Das Elend der Lager kann ein Bericht natürlich nicht verändern. Das Lager kann nur soweit verändert werden, soweit das Land draußen erschlossen wird und der freie Mensch sich in ihm ändert.
Das Problem, von der individuellen Lagerung zu berichten, ist, dass die individuelle Lagerung aus sich heraus noch keine stolze Staatsfeindschaft ermöglicht, sondern daß sie den Häftling ängstlich in die Befolgung der Phantasien des freien Menschen treibt, was ihn immer nur noch fester an den Bildschirm bindet. Der individualisierte Häftling fühlt sich als arbeitsbehinderter Kranker, der seine ganze Kraft dafür braucht, die Tiefe seiner Arbeitsbehinderung zu vertuschen, um nicht den Status seiner individuellen Lagerung zu verlieren und der dem Produktions-System Dankbarkeit für seine Versorgung, für sein nacktes Leben-Dürfen schuldet.
In Krisenzeiten lösen sich die gewohnten Beziehungen des freien Menschen mit zunehmender Geschwindigkeit auf. Die Herkunftsgruppe geht auseinander, der Nachbar zieht fort, der langjährige Arbeitskollege wird versetzt und scheidet aus dem Produktions-System aus. Die Welt des freien Menschen wird immer einsamer und frostiger und eine ungreifbare Angst lähmt den freien Menschen. Krisenzeiten verlangen von ihm alle Aufmerksamkeit zur Sicherstellung seiner eigenen Versorgung. Wohin der andere verschwindet, vor allem der nur fallweise im Produktions-System jobbende Arbeitskollege oder gar der individualisierte Häftling, von dem er sowieso fast nichts weiß, weiß er nicht. In Krisenzeiten konzentriert das Produktions-System denjenigen, der in ihm nicht verwendbar ist, im öffentlichen Lager. In Krisenzeiten wird das nicht mit dem moralischen Anspruch auf Erziehung zur Arbeit getan – sondern es geht dann nur noch darum, die Lagerung des arbeitsbehinderten Häftlings mit dem minimalen Kostensatz durchzuführen. Da diese Lagerung aber nun nicht mehr in einem unerschlossenen Land stattfindet, hat der Häftling jetzt keine Chance mehr, einen eigenen, selbstversorgenden Lager-Staat zu errichten. Die öffentliche Lagerung des Häftlings im erschlossenen Land dient vom Anfang an seiner Liquidation.
Maßstab des fortschreitenden Prozesses der Liquidation des Häftlings im erschlossenen Land ist für den freien Menschen die Schrumpfung seines Beziehungsumfelds, das Verschwinden des Nachbarn, des Arbeitskollegen und des Sonderlings. Wer heute sein Beziehungsumfeld analysiert, erkennt, dass schon sein halbes Beziehungs-Umfeld – und das ist die zartere und wärmere Hälfte - im Fernseh-Lager verschwunden ist. Doch auch eine Hälfte