DER KETZER VON SOANA - Page 4

Bild von Gerhart Hauptmann
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den Ruf entlockte: sie habe nie gewußt, wieviele Engel in
dem sonst ziemlich verderbten Soana verborgen gewesen wären. Kurz, der
Ruf des jungen Pfarrers Francesco erscholl auch in der Umgegend weit
und breit, und er kam sehr bald in den Ruf eines Heiligen.

Von alledem ließ sich Francesco nicht anfechten und war weit davon
entfernt, irgendein anderes Bewußtsein in sich zu pflegen, als daß er
seinen Pflichten leidlich gerecht wurde. Er las seine Messen, vollzog
mit nie vermindertem Eifer alle kirchlichen Funktionen des
Gottesdiensts und -- das kleine Schulzimmer befand sich im
Pfarrhause -- versah auch überdies die Obliegenheiten des weltlichen
Schulunterrichts.

* * * * *

Eines Abends, zu Anfang des Monats März, wurde sehr heftig an der
Klingel des Pfarrhöfchens gerissen, und als die Schaffnerin öffnen kam
und mit dem Licht der Laterne in das schlechte Wetter hinausleuchtete,
stand vor der Tür ein etwas verwilderter Kerl, der den Pfarrer zu
sprechen wünschte. Nachdem die Schaffnerin erst die Pforte wieder
geschlossen hatte, begab sich die alte Person zu ihrem jungen Gebieter
hinein, um, nicht ohne merkbare Ängstlichkeit, den späten Besucher
anzumelden. Allein Francesco, der es sich unter anderem zur Pflicht
gemacht hatte, niemand, wer es auch sei, der seiner bedürfe,
abzuweisen, sagte nur kurz, von der Lektüre irgendeines Kirchenvaters
aufblickend: »Geh', Petronilla, führ ihn herein.«

Bald darauf stand vor dem Tische des Pfarrers ein etwa vierzigjähriger
Mann, dessen Äußeres das der Landleute jener Gegend war, nur weit
vernachlässigter, ja, verwahrloster. Der Mann ging barfuß. Eine
zerlumpte, regendurchnäßte Hose war über den Hüften von einem Riemen
festgehalten. Das Hemd stand offen. Die braune, behaarte Brust setzte
sich in eine buschige Kehle und in ein von Bart- und Haupthaar schwarz
und dicht umwuchertes Antlitz fort, aus dem zwei dunkel glühende Augen
hervorbrannten.

Eine aus Flicken bestehende, vom Regen durchnäßte Jacke hatte der Mensch
nach Hirtenart über die linke Schulter gehängt, während er einen von
Wind und Wetter vieler Jahre entfärbten und zusammengeschrumpften,
kleinen Filz, aufgeregt, mit den braunen und harten Fäusten herumdrehte.
Einen langen Knüttel hatte er vor dem Eingang abgestellt.

Gefragt, was er wünschte, brachte der Mann unter wilden Grimassen
einen unverständlichen Schwall rauher Laute und Worte hervor, die zwar
der Mundart jener Gegend angehörten, aber wiederum einer Abart davon,
die selbst der in Soana geborenen Schaffnerin wie eine fremde Sprache
erschien.

Der junge Priester, der seinen Besuch neben der kleinen, brennenden
Lampe hin mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, bemühte sich
vergeblich, den Sinn seines Anliegens zu ergründen. Mit viel Geduld,
mittels zahlreicher Fragen, konnte er endlich soviel aus ihm
herausbringen, daß er Vater von sieben Kindern war, von denen er
einige gern in der Schule des jungen Priesters angebracht hätte.
Francesco fragte: »Wo seid Ihr her?« Und als die Antwort,
hervorgesprudelt: »Ich bin aus Soana« lautete, erstaunte der Priester
und sagte zugleich: »Das ist nicht möglich! ich kenne jedermann hier
am Ort! aber Euch und Eure Familie kenne ich nicht.«

Der Hirte, Bauer oder was er nun sein mochte, gab nun von der Lage
seines Wohnhauses eine von vielen Gesten begleitete, leidenschaftliche
Schilderung, aus der jedoch Francesco nicht klug wurde. Er meinte nur:
»Wenn Ihr Einwohner von Soana seid, und Eure Kinder das gesetzliche
Alter erreicht haben, so müßten sie doch ohnedies schon längst in
meiner Schule gewesen sein. Und ich müßte doch Euch oder Eure Frau
oder Eure Kinder beim Gottesdienst in der Kirche, bei Messe oder
Beichte, gesehen haben.«

Hier riß der Mann seine Augen auf und preßte die Lippen aufeinander.
Statt jeder Antwort stieß er, wie aus empörter und gepreßter Brust,
den Atem aus.

»Nun so werde ich mir Euren Namen aufschreiben. Ich finde es brav
von Euch, daß Ihr selber kommt und Schritte tut, damit Eure
Kinder nicht unwissend und womöglich gottlos bleiben.« Bei
diesen Worten des jungen Klerikers fing der zerlumpte Mensch, so
daß sein brauner, sehniger und beinahe athletischer Körper davon
geschüttelt wurde, auf eine sonderbare, beinahe tierische Art und
Weise zu röcheln an. -- »Jawohl,« wiederholte betreten Francesco,
»ich zeichne mir Euren Namen auf und werde der Sache wegen
nachforschen.« Man konnte sehen, wie Träne um Träne von den
geröteten Augenrändern des Unbekannten über das struppige Antlitz
herniederrann.

»Gut, gut,« sagte Francesco, der sich das aufgeregte Wesen seines
Besuchers nicht erklären konnte und übrigens davon nochmehr
beunruhigt, als ergriffen war -- »gut, gut, Eure Sache wird untersucht
werden. Nennt mir nur Euren Namen, guter Mann, und schickt mir morgen
früh Eure Kinder!« Der Angeredete schwieg hierauf und sah Francesco
mit einem ratlosen und gequälten Ausdruck lange an. Dieser fragte
nochmals: »Wie heißt Ihr? sagt Euren Namen.«

Dem Geistlichen war, von Anfang an, in den Bewegungen seines Gastes
etwas Furchtsames, gleichsam etwas Gehetztes aufgefallen. Jetzt, wo er
seinen Namen angeben sollte und draußen auf dem steinernen Estrich
gleichzeitig der Schritt Petronillas hörbar ward, duckte er sich und
zeigte überhaupt eine Schreckhaftigkeit, wie sie meist nur
Irrsinnigen oder Verbrechern eignet. Er schien verfolgt. Er schien auf
der Flucht vor Häschern zu sein.

Dennoch ergriff er ein Stück Papier und die Feder des Geistlichen,
trat seltsamerweise ins Dunkel, vom Lichte abgewandt, ans
Fensterbrett, wo unten ein naher Bach und, mehr von ferne, der
Wasserfall von Soana hereinrauschte, und malte, mit einiger Mühe, aber
doch leserlich, etwas auf, was er mit Entschluß dem Geistlichen
zureichte. Dieser sagte: »Gut!« und, mit dem Zeichen des Kreuzes:
»geht mit Frieden!« Der Wilde ging und ließ eine Wolke von Dünsten
zurück, die nach Salami, Zwiebel, Holzkohlenrauch, nach Ziegenbock und
nach Kuhstall dufteten. Sobald er hinaus war, riß Francesco das
Fenster auf.

* * * * *

Den nächsten Morgen hatte Francesco, wie immer, seine Messe gelesen,
danach ein wenig geruht, danach sein frugales Frühstück zu sich
genommen und befand sich bald danach auf dem Wege zum Sindaco, den man
zeitig besuchen mußte, um ihn anzutreffen. Er fuhr nämlich täglich von
einer Bahnstation, tief unten am Seeufer, nach Lugano hinein, wo er in
einer der belebtesten Gassen einen Groß- und Kleinhandel mit
tessinischem Käse betrieb.

Die Sonne schien auf den kleinen, mit alten Kastanienbäumen, die
einstweilen noch kahl waren, bestandenen Platz, der dicht bei der
Kirche gelegen war und gleichsam die Agora der Ortschaft bildete. Auf
einigen Steinbänken saßen und spielten Kinder herum, während die
Mütter und älteren Töchter an einem von kaltem Bergwasser, womit er
reichlich gespeist wurde, überfließenden, antiken Marmor-Sarkophag
Wäsche wuschen und in Körben zum Trocknen davontrugen. Der

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