Erinnerung an Thomas Bernhard

Bild von Daniel Büttrich
Bibliothek

Der Großvater und sein Enkel gingen am 30. Todestag von Thomas Bernhard, einem österreichischen Schriftsteller und "Übertreibungskünstler", in den Bräunerhof, ein von Bernhard häufig und gerne besuchtes Kaffeehaus in Wien. Sie ließen sich vom Kellner die Neue Zürcher Zeitung bringen, eine Reminiszenz des Großvaters an eine Passage aus Wittgensteins Neffe. "Wir können uns noch so viele Alte Meister als Gefährten genommen haben, sie ersetzen keinen Menschen", zitierte der Großvater den Schriftsteller und dachte an seine geliebte, verstorbene Frau. "Der Mensch ist häßlich und schön, Abgrund und Wunder."

"Jeder Mensch ist ein einmaliger Mensch und, für sich gesehen, das größte Kunstwerk aller Zeiten." (Thomas Bernhard)

Der Großvater empfahl seinem Enkel, die Erzählung Die Mütze, den Roman Alte Meister und Wittgensteins Neffe zu lesen, der Enkel empfahl dem Großvater die Ramones, die Doors und die Sleaford Mods, denn er wusste, dass der Großvater seinen Musikgeschmack schätzte.

"Es ist alles eher lächerlich und zum Lachen, und nicht so ernst zu nehmen. Es wäre dumm, sich auf den Ernst vollkommen einzulassen, weil der sich ja wichtig nimmt und es gar nicht ist. Das ist alles ein großes Lachkabinett, diese Erkenntnis befreit mich gelegentlich."

MEIN WELTENSTÜCK (erste Veröffentlichung Thomas Bernhards 1952 im Münchner Merkur)

Vieltausendmal derselbe Blick
Durchs Fenster in mein Weltenstück
Ein Apfelbaum im blassen Grün
Und drüber tausendfaches Blühn,
So an den Himmel angelehnt,
Ein Wolkenband, weit ausgedehnt...
Der Kinder Nachmittagsgeschrei,
Als ob die Welt nur Kindheit sei;
Ein Wagen fährt, ein Alter steht
Und wartet bis sein Tag vergeht,
Leicht aus dem Schornstein auf dem Dach
Schwebt unser Rauch den Wolken nach...
Ein Vogel singt, und zwei und drei,
Der Schmetterling fliegt rasch vorbei,
Die Hühner fressen, Hähne krähn,
Ja lauter fremde Menschen gehn
Im Sonnenschein, jahrein, jahraus
Vorbei an unserm alten Haus.
Die Wäsche flattert auf dem Strick
Und drüber träumt ein Mensch vom Glück,
Im Keller weint ein armer Mann,
Weil er kein Lied mehr singen kann...
So ist es ungefähr bei Tag,
Und jeder neue Glockenschlag
Bringt tausendmal denselben Blick,
Durchs Fenster in mein Weltenstück...

DER ZÖLLNER von Thomas Bernhard (aus Ereignisse, erstmals erschienen 1969 im Verlag Literarisches Colloquium, Berlin)

Der ZÖLLNER wird wegen seiner Kleinheit von den Kindern des Ortes verhöhnt. Sie rufen ihm Schimpfnamen zu, beschießen ihn, auf den Bäumen hockend, mit Kastanien, so daß er sich oft vor Schmerzen auf seiner Pritsche krümmt. Er ist menschenfreundlich. Hätte er längere Beine und einen größeren Oberkörper, er wäre bei allen Leuten beliebt. So jedoch geschieht es, daß er sich mehr und mehr abschließt und seine Freizeit nicht mehr im Ort, sondern entweder mit Kameraden oder allein am Zollamtsgarten verbringt. Von einem bestimmten Zeitpunkt an hat er sich etwas Ungewöhnliches ausgedacht und es verschwiegen, denn, so sagt er sich, die schönsten Einfälle soll man für sich behalten. Er hat sich über Nacht eine Armee geschaffen, nicht aber eine Armee, die ihm zu dienen gezwungen ist, sondern eine feindliche Armee. Sie besteht aus den Alleebäumen, die zum Zollhäuschen an der Brücke führen, aus der Weidenkolonne, aus der Farrenkräuterformation und aus dem Schlangenblätterverband. Es ist nicht leicht für ihn, sich täglich, unbemerkt, einem so gewaltigen feindlichen Heer auszusetzen. Aber gerade diese Strategie, die ihn ein Großteil seiner Energie kostet, braucht er, nichts sonst. Im Traum spricht er davon, aber die anderen Zöllner verstehen nicht, um was es sich handelt. Sie bemerken, daß er sie weniger braucht als früher. Seine Ortsbesuche hat er aufgegeben. Man sieht ihn nur noch in der Allee, in den Weiden, in den Farrenkräutern, in den Schlangenblättern. In ihnen benimmt er sich wie Alexander, wie Napoleon. Am Abend ißt er viel und wird dick. Eines Tages gehen ihm vor Aufregung die Nerven durch, und der Zöllner hebt den Revolver und schießt wild einen Alleebaum nach dem anderen nieder, bis das Lager leer ist. Da das vor den Augen der anderen Zöllner geschieht, nehmen sie ihm die Waffe ab und sperren ihn in die Zelle. Spät abends wird er von zwei Männern in Militärmänteln abgeholt.

Thomas Bernhard, geboren am 09.02.1931, hat am 12.02. seinen 30. Todestag. Ich sehe in ihm nicht nur den großen "Übertreibungskünstler" und "Geschichtenzerstörer", sondern auch einen Humanisten.

Interne Verweise

Kommentare

03. Feb 2019

Ganz lieben Dank für diese wunderbare Erinnerung an den Schriftsteller Thomas Bernhard, in dessen Büchern ich oft lese. Ich habe fast alle seine Bücher; seine Gedichte fehlen mir nur noch. Er hat sehr viel durchmachen müssen in seinem Leben, von Kindheit an. Und er hatte immer seinen eigenen Kopf. - Ja, Du hast recht: Bernhard war ein (großer) Humanist - und Schelm, fast ein Ironiker.

LG Annelie

12. Feb 2019

Liebe Annelie, ich habe alle seine Bücher. Seine Gedichte sind sehr tiefgründig und kunstvoll, das waren seine Anfänge. Er sah sich selbst zunächst eher als Lyriker. Dann kam 1963 der Roman Frost. Danke für Deine Worte.

LG, Daniel