Blickwechsel

Bild von Monika Jarju
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Vier Minuten, las Elke auf der Anzeige, der Bahnsteig füllte sich. Ein Mann, zweizentnerschwer, bezopft, verfolgte beharrlich jeden ihrer Schritte. Sie sah weg, geradewegs in das Gesicht eines Unbekannten, der auf sie zu kam und langsam vorüberging. Unauffällig hatte er sie gemustert. Er sah gut aus in seiner hellblauen Jeans, dem hellen Hemd und dem tiefen Blick seiner Augen. Sie wandte sich ab, lief auf und ab, die Blicke des Dicken unablässig auf sich gerichtet. Leute standen gelangweilt herum, lehnten gegen Wände, eine Gleichmut ausstrahlend, die ihre Augen Lügen straften.
Elkes Blick huschte über jeden Neuankömmling, sie erfand Geschichten zu jedem, mischte sich für einen kurzen Moment in ein anderes Leben. Wer war sie in den Augen anderer? Sie wusste es nicht.
Der Fremde, vielleicht ein Marokkaner oder Algerier, umrundete sie in immer kürzeren Kreisen, jedes Mal hefteten sich ihre Blicke ineinander, wie absichtslos. Seine Augen waren wirklich tiefbraun. Sie ging in die entgegengesetzte Richtung.
Noch zwei Minuten. Der Fremde stand nun am Ende des Bahnsteigs, ihr zugewandt, tat, als sähe er sie nicht. Der Zug fuhr ein, sie stieg vorn ein, setzte sich in ein Abteil zu zwei jungen Frauen. Der Mann näherte sich ihrem Abteil, trat durch zur Mitte und hielt sich an der Stange fest. Seine zartgliedrige Hand fiel ihr auf. In der Spiegelung der Scheiben erblickten sie sich und wichen sofort aus. Vor ihr die jungen Frauen in ein Gespräch vertieft, dahinter fing er jeden ihrer Blicke ab. Sein zaghaftes Lächeln griff auf sie über, sprang als Lächeln zu ihm zurück. Alles schien klar.
Nervös nestelte er an seinem Rucksack, er würde gleich aussteigen. Er sah sie fragend an. Ihr fiel nichts ein, sie blieb sitzen, sah ihm nach, als er ausstieg – und lächelte. Wenn er jetzt geht, war es ein schöner Moment, dachte Elke ohne Bedauern.
Er stand auf dem Bahnsteig, sah sie unverwandt an, beide fingen laut an zu lachen, man konnte es im ganzen Zug hören. Schnell sprang er wieder hinein. Die jungen Frauen waren ausgestiegen. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie lachten beide, nun unbefangen.
Dann stiegen sie gemeinsam aus.
„Es ist mir peinlich, Sie anzusprechen“, sagte er und senkte die Lider. „Was machen wir nun?“, fragten beide gleichzeitig und sahen sich erwartungsvoll an. Er würde das sonst nie tun, beteuerte er. „Und das soll ich glauben?“ Elke blickte ihm fest in die Augen. „So etwas kommt von Herz zu Herz“, sagte er schlicht. Sie nickte und dachte, es klingt nur so abgedroschen in diesem Land.
Züge fuhren aneinander vorbei, der dröhnende Lärm löschte seine Worte, sie hörte noch: „Ich bin Ägypter, …im Süden an den Sudan“, und verstand, wovon er sprach.
Elke glaubte ihm nicht. Sie achtete auf seinen Akzent. Etwas war falsch, fühlte sie. Aber was war falsch? Sie würde es erfahren, wusste sie genau.

Interne Verweise

Kommentare

19. Sep 2020

Züge sind ganz Krauses Ding:
Beim Trinken bleibt sie ewig King ...

LG Axel

20. Sep 2020

Zug um Zug trinkt Krause
oft bis morgens um vier...

LG Monika

19. Sep 2020

Eine spritzige und mich sehr unterhaltende Geschichte. Dankeschön.
HG Olaf

20. Sep 2020

danke*schön! - heiteren Gruß,
Monika

22. Sep 2020

Freut mich, danke Dir!
Lieben Gruß, Monika