Ruth - Page 32

Bild von Lou Andreas-Salomé
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schon zu Tisch setzte.

Die Zwischenzeit hatte er im hintersten Winkel des Gartens unter den tropfenden Bäumen verbracht im Kampf mit einem großen Entschluß. Seine Ringelnatter war mit ihm, sie hing ihm melancholisch um den Hals, als wisse sie schon, daß ihr etwas sehr Unangenehmes bevorstehe. Noch einmal hatte er sie liebkosend in die Arme genommen, sie gestreichelt und zärtlich an sich gedrückt, noch einmal in ihrem kostbaren Besitze geschwelgt. Dann hatte er sie totgeschlagen.

Um es zu tun, mußte er sich Mut einsprechen und sein Herz verhärten. Er mußte sich vorstellen, daß er wie ein neuer Herkules sei, der die Hesione von einem Meerungeheuer erlöst, oder noch lieber wie Perseus, der sich seine Andromeda erobert. Aber diese Vorstellung verfing nicht recht. Seine arme Ringelnatter sah gar nicht aus wie ein Meerungeheuer, Ruth verkannte sie nur. Das Tier blickte ihn mit den schwarzen Äuglein so beweglich an, und er hatte es so lieb.

Da ging ihm tröstend ein altes Märchen durch den Sinn, von einer Schlange mit einem Goldkrönlein auf dem Kopf; wer die totschlug, dem verwandelte sie sich in eine liebreizende Prinzessin. Er wußte nicht mehr, ob sich's genau so verhielt, aber es gefiel ihm. Und seine Prinzessin saß und wartete gewiß schon darauf.

Nach dem Jonas den Mord vollbracht hatte, wandte er sich mit rotem Gesicht ins Haus. Es war ein ganz ungeheueres Opfer, fand er, das sie da beide Ruth gebracht hatten, er und die Ringelnatter. Denn die Schlange blieb nun tot, und er hatte sich über sie fast ebenso gefreut wie über ein Reitpferd.

Und nun sprach Ruth bei Tisch immer von den albernen Schulmädchen, die er nicht leiden konnte. Es ärgerte ihn, daß sie heute in die Freistunde gelaufen war, denn bisher besaß sie an ihm ihren einzigen Spielgefährten, und in diesem Punkte verstand Jonas keinen Spaß.

Noch saßen sie beim Mittag, als ein Eilbote kam und für Erik ein Telegramm überbrachte.

Dieser erbrach es und überflog den Inhalt, dann schob er seinen Teller zurück und trat mit dem Papier ans Fenster. Man sah ihm an, daß es eine freudige und ihn bewegende Nachricht war, die er erhalten hatte.

»Fast ein ganzer Brief! An der Grenze aufgegeben,« sagte er, »denke dir, Bel, mein alter Freund Bernhard Römer ist hierher unterwegs. Siebzehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Oder noch länger? Damals waren wir beide noch Studenten! Erinnerst du dich seiner noch?«

»O ja, Erik! Wie sollt' ich den vergessen! Denn mit ihm war es ja, daß du immer noch so große Zukunftspläne machtest. Ihr wolltet alles am liebsten auf den Kopf stellen. Ja, so jung wart ihr damals. Was ist denn Römer eigentlich geworden?«

»Er ist Professor der Medizin an der Heidelberger Universität. Schrieb mir noch manchmal in frühern Jahren.«

Ruth hatte aufgehört zu essen und sah mit großen Augen zu Erik hinüber. Bei dem Wechsel in seinem Mienenspiel und bei Klare-Bels Worten war es Ruth, als stiege plötzlich eine ganz fremde und ferne Vergangenheit zwischen ihnen auf. Eine Vergangenheit, wobei sie nicht zugegen gewesen war. Überhaupt noch nicht auf der Welt! Er schien ihr ganz unmöglich.

»Wird er hier herauskommen?« fragte sie leise.

»Das wird er leider nicht. Er reist nur durch. Sein Ziel ist Moskau. Dort ist irgend eine Ärzteversammlung. Morgen früh am Bahnhof werd ich Näheres erfahren. Ob er seine Frau wohl mitgebracht hat?«

»Zu einer Ärzteversammlung?« bezweifelte Klare-Bel.

»Warum nicht? Ich glaube, sie sind in ihrem geistigen Leben eng verwachsen. Römer heiratete sehr jung, die Frau machte seine ganze Sturm- und Drangperiode noch mit durch. Das gab ihrer ganzen Ehe den Charakter.«

»Haben Sie keine Kinder?« fragte Klare-Bel, die dieser Punkt besonders zu interessieren pflegte.

»Ich glaube nicht.«

»Keiner Kinder!« wiederholte Klare-Bel im Tone des Bedauerns. Nichts war ihr an ihrem Leiden so hart erschienen, wie der Umstand, daß sie nicht wieder Mutter werden konnte. »Das ist doch eine traurige Ehe, so zu zweien.«

»Soviel ich mich erinnere, haben sie nicht immer zu zweien gelebt. Sie haben wiederholt junge Mädchen, die an der Universität studierten, bei sich aufgenommen.«

»An der Universität studierten? Können junge Mädchen das dort?« erkundigte sich Ruth erstaunt.

Erik blickte sie mit einem Lächeln an.

»Jawohl. Solche junge Mädchen wie du,« sagte er; »es steht dem ja nichts im Wege, daß du eins der nächsten Hauskinder bei Römers wirst. Hast du Lust dazu?«

Er sagte es scherzend, aber der Blick, womit sie ihm antwortete, war so ernst, daß er ihm im Gedächtnis blieb.

Erik setzte sich an den Tisch zurück und plauderte mit seiner Frau von alten Zeiten. Jonas fand, nun könnte Ruth mit ihm hinausgehn, aber sie blieb sitzen und hörte zu.

Draußen hatte es angefangen, stärker zu regnen. Jonas lehnte in der Haustür an der Terrasse und schaute prüfend hinaus. Als Ruth endlich vom Mittagstisch aufstand und in den Flur trat, bemerkte er: »Wenn wir doch wenigstens bei Regenwetter ›Mann und Frau‹ spielen wollten. Das paßt so gut fürs Haus. Denn wenn die Sonne scheint, tust du's doch nicht. Und dann ist es auch etwas, was du bei deinen albernen Mädchen nun einmal nicht haben kannst.«

»O doch!« versicherte Ruth und schwang sich auf das Geländer der schmalen Holztreppe, die nach ihrem Giebelstübchen hinaufführte, »das haben wir im Schulhof oft genug miteinander gespielt.«

»Das muß aber eine schöne Wirtschaft gewesen sein ohne einen wirklichen Jungen!« meinte Jonas verächtlich. »Und ich möchte doch so viel lieber dein Mann sein als der Mann in all den Räubergeschichten, wobei ich mich immer so anstrengen muß.«

»Aber ich möchte nicht deine Frau sein,« sagte sie kaltherzig und saß und schlenkerte mit den Füßen, »und dann wäre das auch noch viel anstrengender für dich. Sei doch froh, daß du jedesmal bei allem die Hauptperson und der Held bist.«

»Nein, das bist du eben immer!« warf er ihr mißmutig vor.

»Nein, Jonas, das ist bestimmt nicht wahr. Du bist es ganz allein. Warst du nicht erst gestern der Egmont? Und neulich –«

»Ja, im Anfang!« unterbrach er sie gereizt, »aber wenn du mir alles immer erst vorsagst und womöglich auch noch vormachst, dann bin ich es ja gar nicht in Wirklichkeit, sondern nur du.«

»Ich kann doch nichts dafür, wenn du dumm bist.«

Jonas schwieg gekränkt. Wenn sie wüßte, wem sie das sagte; – wenn

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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