Ruth - Page 44

Bild von Lou Andreas-Salomé
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daß du dich später weiter entwickeltest, und du wolltest es auch. Ich dachte oft bei mir, wenn ich dir zusah: manches von dem, was ich einst selbst erstrebt habe, könntest du, in andrer Form, später einmal verwirklichen. Aber was so, als Zukunftsmöglichkeit, in der Ferne stand, wird doch näherrücken müssen, bis es unwiderrufliche Wirklichkeit und Gegenwart geworden ist. Und ich wünsche, daß du diesem Gedanken jetzt nahe trittst, mein Kind.«

»– – Wie nahe – – ist es denn?« fragte Ruth mißtrauisch, aber kaum war es ihr entschlüpft, als sie ihre Hand aus der seinen riß und ihre beiden Hände flach gegen die Ohren preßte.

»Nicht!« murmelte sie undeutlich, »ich will's nicht wissen! bitte, nicht! bitte, bitte, nicht weitersprechen.«

Einen Augenblick schloß er die Augen.

Dann faßte er sanft nach ihren Händen und zwang diese zu sich nieder.

»Es hilft nichts, mein Kind,« sagte er fest, »es hilft nichts, sich vor etwas Unwiderruflichem zu verschließen. Grade hier von werden wir weitersprechen. Denn je mehr du noch davor zurückscheust, desto dringender, desto eher muß es geschehen.«

Ruth war sehr blaß geworden.

Ein unbestimmtes Grauen stieg dunkel in ihr auf. Vor etwas, was sie noch nicht fassen, nicht deutlich begreifen konnte, was aber vor ihr empordämmerte – unerwartet, unversehens, aus dem Nichts, – schattenhaft, gleich einem Riesengespenst.

»Ich kann nicht!« stieß sie hervor. »Es kann ja so nicht sein! Ich will nicht, daß es so ist. Ich kann nicht!«

Er beugte sich über sie und suchte ihren Blick.

»Wirklich nicht?« fragte er ruhig; »auch nicht, wenn du weißt: ich will es? Auch nicht, wenn ich es selbst bin, der dich bei der Hand nimmt, dich vor etwas hinstellt, was dir schwer fällt, damit du lernst, es herankommen zu sehen, ohne davor fortzulaufen?«

Sie schmiegte sich an ihn und versteckte den Kopf an seiner Schulter.

»Ich fürchte mich,« sagte sie, wie ein Kind im Dunkeln; »– irgend etwas Schreckliches ist da, – seit gestern ist es da – und kommt heran, immer näher, – ganz dicht heran, – ganz nahe. Wie ein Ungeheuer, das sich um mich ringelt. – Ist es etwas Schreckliches – –?«

»Nicht das, was du gestern fürchtetest,« sagte er leise, »– nur das, was du gestern selbst wolltest, selbst fordertest. Weißt du nicht, was du mir versprochen hast? Gehorchen wolltest du – unbedingt. Ich sollte dich auf die Probe stellen. Wenn ich's nun tue, Ruth, – ziehst du dein Versprechen zurück?«

»Nein!« entgegnete sie rasch und richtete sich auf. Dagegen gab es keine Auflehnung. Nur Gehorsam.

»Worin besteht die Probe?« fragte sie entschlossen, »was soll ich tun?«

Er antwortete nicht gleich. Er hatte die Brauen zusammengezogen, und seine Zähne gruben sich in die Lippe, als litte er körperlichen Schmerz.

Ein paar Augenblicke verharrten sie schweigend beieinander.

Ein kühler Luftzug strich durch die Bäume und warf ihnen ein rundliches gelbes Birkenblatt nach dem andern in den Schoß. Mühsam schien die Sonne durch breite weiße Wolkenmassen in den Garten, und aus den Vogelnestern ringsum unterbrach hin und wieder ein kleiner satter Ton die Stille um sie.

Da antwortete Erik mit einer Stimme, die fast rauh klang: »Du sollst dich in einer großen Sache ebenso tapfer erweisen, wie du dich einmal in einer kleinen erwiesen hast. Du sollst tun, was du schon einmal getan hast, als dir das lange Herankommen, – Näherkommen von etwas Gefürchtetem bevorstand. Es war damals, als uns Jonas die Schlange ins Haus brachte. Sie flößte dir solchen Schrecken ein. Weißt du nicht mehr, was für ein Mittel deine eigne Tapferkeit dagegen fand?«

»Nein!« sagte sie stutzend und blickte auf, »was war das für ein Mittel?«

»Du sagtest: ›Dann lieber gleich!‹«

Ruth sprang jäh von der Bank auf und machte eine wilde Bewegung gegen ihn hin, als ob sie ihn noch rechtzeitig an etwas hindern wollte.

Dann, ohne einen Laut der Erwiderung, brach sie vor ihm in die Knie, in das welke Augustlaub, das zu seinen Füßen lag.

»Ruth!« murmelte er angstvoll und breitete seine Arme um sie, »mein Kind! mein Liebling! hörst du mich nicht?«

Aber sie hörte nicht mehr. Ihr Kopf fiel zurück. Sie hatte das Bewußtsein verloren.

Inzwischen war Jonas in den Garten gelaufen, der vom Fenster aus beobachtet hatte, daß der Vater mit Ruth in das kleine Gehölz hineingegangen war.

Wie versteinert blieb er stehn, als er jetzt Erik zwischen den Bäumen hervortreten sah und Ruth mit geschloßnen Augen regungslos in seinen Armen. Ihre rechte Hand hatte der Vater um seinen Nacken gelegt, die linke hing schlaff herunter.

»Geh voraus!« gebot Erik dem Knaben, »ohne Lärm. Halt mir die Türen offen. Ich muß Ruth auf ihr Bett tragen.«

Jonas blieb jegliche Frage in der Kehle stecken; er rannte voraus, nicht ohne sich fort während nach dem Vater umzusehen, und ins Haus hinein. Dort lief er, ohne die Mutter oder Gonne zu alarmieren, die Holztreppe zu Ruths Giebelstube hinauf. Als Erik mit Ruth in den Armen oben ankam, stand Jonas wartend an der weitgeöffneten Tür, durch die man das schmale weiße Bett mit der zurückgeschlagenen Decke sehen konnte.

Jonas blickte dem Vater ängstlich bittend ins Gesicht, er wäre so gern mit hineingegangen, um bei Ruth zu bleiben. Aber Erik ging schweigend an ihm vorbei und zog die Tür hinter sich zu.

Dieser Augenblick prägte sich ihm mit merkwürdiger Gewalt ein: wie der Vater, Ruth an der Brust, so stumm an ihm vorüberschritt, während er zurück bleiben mußte.

Im Blick und Ausdruck des Vaters empfand er etwas Außerordentliches, einen starren wortlosen Ernst, – so, wie wenn Ruth schon so gut wie tot wäre.

Jonas über lief es kalt.

Er klammerte sich an den Türgriff und lauschte mit zurückgehaltenem Atem. Anfangs unterschied er nichts. Dann hörte er Eriks Stimme, halblaut, kurz, sehr bestimmt im Ton. Sie wiederholte sich. Darauf eine Pause, – und plötzlich ein Klagelaut drinnen, ein einziger Laut, aber so schmerzlich, daß den Knaben Entsetzen faßte.

Was tat man mit Ruth, mit seiner lieben Ruth? Was tat ihr der Vater an? Etwas Furchtbares mußte es sein. Etwas Furchtbares mußte heute im kleinen Gehölz vor sich gegangen sein.

Und er durfte die Tür nicht aufstoßen, er wagte es nicht. Aber eine rasche wilde Empfindung, wie plötzlicher Haß, loderte unverstanden in ihm auf: daß er ein Knabe war, und er Vater ein Mann! Daß

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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