Der neue Postbote * eine weihnachtliche Parabel *

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Fast hätte man es übersehen können, das bescheidene Häuschen am Waldesrande, auf einer kleinen Anhöhe gelegen, nur aus dem Erdgeschoss bestehend, einfach aber gepflegt, Ruhe und eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlend, von einem mehrarmigen, vielfingrigen alten Weinstocke gleichsam liebevoll umarmt, nur bescheiden geschmückt durch spärliches rötlich-goldfarbenes Weinlaub, welches den Stürmen des vergangenen Herbstes hatte trotzen können.

In den Angeln quietschend wurde die Haustüre geöffnet, im Türrahmen erschien die leicht gebückte Gestalt des alten Mannes, der trotz seiner Arbeitskleidung nicht ungepflegt wirkte und der es seinen abgearbeiteten Gelenken gestattete, sich kurz auf der hölzernen Bank auszuruhen. Er setzte sich sehr vorsichtig nieder, stöhnte dabei leise, schaute auf seine Armbanduhr und ließ den Blick die schmale Teerstraße hinabgleiten, die zu ihm heraufführte. Er erwartete den Postboten. Seine nicht unedlen Gesichtszüge spiegelten jene heitere Gelassenheit wieder, die nur denen zu eigen werden kann, welche bereit gewesen sind, aus den Irrungen und Wirren ihres Lebens zu lernen, dass ohne ein vernünftiges Maß an Resignation letztendlich kein Schicksal zu ertragen sei.
Ein mittelgroßer, braun-weiß-gefleckter Hund mit struppigem Fell von undefinierbarer Rasse, der sich inzwischen neben die Bank gelegt hatte, richtete sich plötzlich auf, begann zu wittern und leise zu knurren. „Ist schon gut, Polly“, meinte der Alte, „jetzt kommt das Postauto.“ Er streichelte das Tier, das sich sofort beruhigte und seine ängstlich-unfreundliche Geste zugunsten eines eher zurückhaltenden Schwanzwedelns aufgab.
Schon brummte der gelbe Transporter die Anhöhe herauf, um schließlich vor dem Hause anzuhalten. „Guten Morgen, ich habe heute gleich fünf Pakete für Sie!“, rief der Postbote.
Der Greis grüßte zurück: „Das Gleiche wünsche ich Ihnen. Bitte könnten Sie so freundlich sein und die Lieferung wieder auf die linke Seite des Hausganges stellen, einfach auf die anderen Päckchen oben drauf?“ „Das würde ich gerne tun, aber ich befürchte, dass dann alle umfallen – ich stelle sie lieber rechts im Flur ab“, gab der junge Mann zu bedenken. „Um Gottes Willen bitte nicht!“, der Alte wirkte plötzlich sehr beunruhigt, „nur nicht auf die rechte Seite, sonst kenne ich mich bald nicht mehr aus. Wissen Sie, jedes Jahr am 15. Dezember kommen die letzten Pakete und heute ist doch der Fünfzehnte … sie müssen noch links Platz finden – unbedingt!“

Diese eigenartige Beharrlichkeit des Alten hatte den Postboten anscheinend etwas verwirrt und als er, aus dem Hause tretend, ein leises „Geschafft ...“ stöhnte, sich aber seiner aufkeimenden Ungeduld schämend bemühte, etwas Freundliches zu sagen, stammelte er: „Sie … Sie, ich meine … es geht mich ja nichts an, aber sie müssen viele Freunde und Angehörige haben, bei denen Sie sehr beliebt sind, wenn Sie vor Weihnachten so viele Päckchen erhalten?!“ Der Angesprochene fand die in der Frage versteckte, unbeholfene Neugier, welche eine gewisse Verlegenheit nicht verbergen konnte, rührend und er bereute es, dass er sich vorhin fast etwas ungehalten gezeigt hatte.
Er rückte ein wenig zur Seite: „Setzen Sie sich bitte zu mir, Ihre Frage ist nämlich nicht ganz so schnell zu beantworten. Einerseits haben Sie Recht, ich habe vier Söhne und vier Schwiegertöchter, vier Töchter und vier Schwiegersöhne. Voriges Jahr waren es etwa 13 Enkel ... von den Neffen und Nichten erwähne ich der Einfachheit halber nichts, aber es sind deren etliche! Sie liegen jedoch völlig daneben, wenn Sie annehmen, alles, was sich im Hausflure türmt, seien Geschenke von jenen für mich! Nein, es ist genau umgekehrt, es sind – oder besser gesagt – es werden zwar Geschenke, aber von mir für sie! Ihr Vorgänger war da schon sozusagen 'eingearbeitet', denn ab morgen werde ich Sie bitten, die jeweils neu von mir zusammengestellten Pakete, die dann auf der rechten Seite des Ganges stehen werden, abzuholen, damit sie noch rechtzeitig vor Weihnachten meine Angehörigen erreichen. Ich schätze, Sie damit bis ungefähr zum 20. Dezember bemühen zu müssen.“
„Kein Problem, das übernehme ich doch gerne für Sie“, gab der Postangestellte zur Antwort und erleichtert darüber, dass sich die Situation wieder entspannt hatte, fügte er hinzu: „Da werde ich schon dafür sorgen, dass alles nach Plan läuft … da werden sich Ihre Angehörigen aber freuen und eine Welle der Dankbarkeit wird auf Sie zurollen!“
„Ob sie sich freuen oder gar dankbar sein werden – ich weiß es nicht“, wandte der alte Mann nachdenklich ein, „zumindest habe ich es bis jetzt noch nie erfahren – immerhin bemühe ich die Post in der nämlichen Art schon seit fast 20 Jahren …“
„Es tut mir leid, es war ungeschickt und unhöflich von mir, überhaupt zu fragen und mich in Ihre Angelegenheiten einzumischen … aber … eine abschließende Bemerkung mögen Sie mir bitte noch gestatten: Ich bin entsetzt darüber, dass Menschen so undankbar sein können, dass Ihre Großzügigkeit so wenig Anerkennung erfährt. Ich finde, Ihre Angehörigen verdienen Ihre Geschenke überhaupt nicht!“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, lächelte der Alte verständnisvoll, „früher hätte ich Ihre Anschauung durchaus geteilt. Wie gut kann ich doch Ihre Reaktion nachempfinden, denn eigentlich müsste es mich ja durchaus das ganze Jahr über geben und nicht nur an Weihnachten! Aber da wir nun einmal so offen miteinander reden, ersuche ich Sie, danach zu trachten, auch meine Denkweise zu verstehen, die sicher – auch in Ihren Augen – wenigstens teilweise nachvollziehbar sein wird, da sie der Logik offensichtlich nicht entbehrt. Schauen Sie, zwar pflegt man mit mir keinerlei Kontakt, aber erspart man mir dadurch nicht viel Unangenehmes, was das Miteinander der Menschen zweifelsfrei beinhaltet? Ich werde vor allem nicht in Familienquerelen hineingezogen. Wer beispielsweise mit wem aus welchem Grunde auch immer gerade zerstritten ist oder sich wieder – meist ohnedies nicht auf Dauer – versöhnt hat, das braucht mich nicht zu berühren, ich erfahre es einfach nicht! - Man erspart mir des weiteren, mitansehen zu müssen, wie immer wieder die gleichen Fehler gemacht werden … dass kaum jemand bereit zu sein scheint, aus seinem Fehlverhalten zu lernen. Ich werde nicht damit belastet, miterleben zu müssen, wie möglicherweise manche – gerade unserer jungen Familienmitglieder - mit Alkohol oder gar anderen Drogen ihrer Gesundheit schaden … oder wie sie anderweitig ihr lausiges bisschen Glück mit Füßen treten ... und dies nicht etwa nur aus verzeihbarer jugendlicher Unerfahrenheit heraus, ist doch nicht selten die Triebfeder ihres Tuns nichts anderes als dümmliche Arroganz! Ich brauche also nicht zu erfahren, wie Menschen, die mir nahe stehen, zwar glauben zu leben – was sie in medizinischem Sinne ja auch tun – aber … haben sie ihr Leben wirklich im Griff, ist es wirklich ihr Leben, das sie zu "führen" glauben? Werden sie nicht gelebt, wenn sie aus Gedankenlosigkeit ... aus Bequemlichkeit heraus ... alles oder zumindest das meiste, was ihnen von wem auch immer eingeredet wird, für gut heißen, ohne es zu hinterfragen? 'Man macht das heute so', würde es nur heißen, aber wer ist 'man'?
Sie werden nicht umhin können, allmählich einzusehen, dass mir meine Angehörigen sehr viel Gutes tun, indem sie sich nicht mit mir abgeben! Sie wissen doch selbst, wie geringschätzend bisweilen unsere Zeit mit alten Menschen umzugehen pflegt. Das alles bleibt mir erspart! Natürlich würde ich oft gerne meine Lebenserfahrung als Lebenshilfe an die jüngere Generation weitergeben, eingepackt in liebende Sorge … was so nicht möglich ist, aber wäre dies wirklich erwünscht? Würde man sich die Mühe machen, meine lautere Absicht zu verstehen, ohne mir Besserwisserei, Nörgelei, Weltfremdheit oder gar nachlassendes Denkvermögen vorzuwerfen? Sehen Sie, auch diese, die in meinen Augen kränkendste und schmerzhafteste aller möglichen Zurückweisungen, ersparen mir meine Angehörigen! Sie lassen mich in Ruhe leben! Und sie sollen meine Geschenke nicht verdienen!?
WENN SIE NICHT, WER DANN!?“

entstanden im Dezember 2008

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