Ruth - Page 27

Bild von Lou Andreas-Salomé
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und Morgenfrische,« sagte Erik, »arbeiten sollst du nicht. Vielleicht solltest du mit mir zur Schule kommen. Noch immer warten die Mädchen auf deinen versprochenen Besuch. Und in ein paar Tagen ist Klassenschluß. Es wird dich ablenken und zerstreuen. Und wenn es dich ermüdet, desto besser.«

*

Gonne hatte auf der Terrasse den Frühstückstisch gedeckt, und Klare-Bel lag schon in ihrem Stuhl daneben, als Erik, Ruth und Jonas, erst auf wiederholte Rufe, aus dem Garten herankamen. Jonas sah ganz erhitzt aus, und der Strohhut saß ihm im Nacken; in seiner rechten Hand trug er einen hohen Eimer, den er von Gonne erbeutet hatte und jetzt auf die Stufen, die zur Terrasse führten, niedersetzte. Eine wohl zwei Fuß lange stahlfarbene, bläulich glänzende Schlange wand sich darin.

»O pfui, Jonas!« rief Klare-Bel entsetzt, »wie magst du nur ein so greuliches Tier herbringen! Kann sie uns nicht alle totbeißen, Erik?«

»Das kann sie nicht. Es ist eine Ringelnatter,« versetzte er lächelnd.

»Aber eine prachtvolle, Mama! Ich fand sie hinterm Gehölz, da, wo sich der kleine Bach im Wiesengrund verläuft,« sagte Jonas voll Stolz und Bewunderung; daß er einen solchen Fund getan hatte, war für ihn ein ganz unerwartetes Landvergnügen, er hatte eigentlich nur auf Raupen gerechnet und höchstens auf eine Blindschleiche.

Ruth beteiligte sich nicht an der Unterhaltung über die Schlange, die Jonas gar nicht aufhören konnte zu bewundern, während sie Kaffee tranken. Seitdem sie im Garten Jonas mit dem Eimer in der Hand begegnet waren, verhielt sich Ruth ganz still. Sie hatte heimlich gehofft, Klare-Bel würde gegen die Schlange protestieren, aber die erkundigte sich ja nur danach, ob das Tier wohl jemand totbeißen könnte. Und das war an einer solchen Schlange doch wohl das Geringste, fand Ruth.

Jetzt gelang es der Ringelnatter, sich nach mehreren vergeblichen Versuchen auf dem Boden des Eimers aufzurichten, sie wiegte rhythmisch ihren Oberkörper und guckte mit ihren kleinen klugen schwarzen Augen die Anwesenden an.

Klare-Bel blickte zufällig auf Ruth, deren Glieder ein Zittern durchlief und die die halbgefüllte Tasse niedersetzte und erblaßte.

»Wirf das Untier fort, aber schnell, Jonas,« sagte seine Mutter rasch, »siehst du denn nicht, daß sich Ruth ängstigt?«

»Nein, laß sie nur da,« fiel Erik ruhig ein, der Ruth die ganze Zeit über beobachtet hatte, »darauf soll keinerlei Rücksicht genommen werden.«

Dann wandte er sich in leichtem Ton an sie: »Liuba hat mir erzählt, daß du einmal wegen einer ähnlichen Kleinigkeit umgefallen bist. Strafe sie Lügen.«

»Hat Liuba gesagt: wegen einer Kleinigkeit?« fragte Ruth erstaunt. »Es war keine Kleinigkeit. Es war etwas Fürchterliches, – kalt und grausig, – was so gewaltsam von außen kam, – so, wie wenn man einen umbringt.«

»Um Gottes willen!« bemerkte Klare-Bel, »was kann denn das nur gewesen sein?«

»Eine kleine Raupe!« entgegnete Erik spottend.

Ruth wollte wahrheitsgemäß verbessern: »Eine große Raupe,« aber sicherer erschien es ihr, nicht noch ausdrücklich zu bestätigen, daß es nur eine Raupe gewesen war.

»Paß mal auf,« rief Jonas, »ich werde das Prachttier zähmen, Ringelnattern sind zutraulich und verständig, man kann sie gern um den Hals winden. Dann spielen wir ›Schlangenbändiger‹. Hast du je schon etwas so Schönes gehört? Ich bin der Schlangenbändiger. Da brauchst du dich gar nicht zu fürchten. Du siehst nur zu und – und bewunderst mich.«

Erik lachte und griff ihm ins kurzgeschorne Blondhaar.

»Stopf deiner Eitelkeit den losen Mund,« warnte er, »denn schon ist die Zeit ganz nah, wo sich Ruth nicht mehr mit der Zuschauerrolle begnügen wird. Wo sie selbst freiwillig, aus eignem Antriebe, an die Schlange herantritt, sie in die Hand nimmt und sich auf den Körper hinaufkriechen läßt.«

Ruth hatte vergeblich versucht, ihn zu unterbrechen.

»Ich! Wann wird das sein?« fragte sie, ganz außer sich vor Erstaunen.

»Wann? vermutlich schon bald.«

»Nein! Nie!« versicherte Ruth, noch ganz fassungslos über seinen Irrtum, »ich würde mich ja immer fürchten.«

»Das würdest du wohl. Aber das ist noch kein Gegengrund. Es kommt vor, daß man stärker ist als die eigene Furcht, und daß man sie totschlägt.«

»Nun, Erik, das ist ein starkes Stück,« sagte Klare-Bel halblaut.

Jonas sah verdutzt aus, daß sein Vater so etwas im voraus wissen konnte, was doch Ruth selbst noch nicht wußte. Aber er begriff, daß ihr Erik etwas Unangenehmes geweissagt hatte, denn sie schauderte unwillkürlich zusammen.

»Weißt du was?« schrie Jonas ihr plötzlich zu, und der rettende Einfall verklärte förmlich sein Gesicht. »Ich weiß einen Ausweg, – tu's eben nicht! Einfach! denk nur: du brauchst es ja einfach nicht zu tun!«

Er mußte sich von seinen Eltern auslachen lassen, und das Gespräch wandte sich andern Dingen zu.

Ruth saß regungslos da und blickte scheu nach dem Eimer. Wie gebannt mußte sie den länglichen, schilderbedeckten, züngelnden Kopf ansehen, der sich dort herüberreckte. Es war, als grüße er sie. Es war, als schaue er grade sie an. Nur sie ganz allein. Als sei sie ganz allein mit der Schlange.

Die kleinen runden schwarzen Augen schienen sich mehr und mehr zu erweitern, wie ein grausiger Höllenabgrund, wo alles Unheimliche sein Spiel trieb. Und hinter dem Kopf mit den Augen hing das ekle schlüpfrige Gewürm und wand sich ungeduldig. Es war ganz gewiß: die Schlange lauerte schon auf sie.

Sie sah doch wirklich so aus, daß man das Schlimmste von ihr denken konnte.

Ruth und die Ringelnatter maßen sich mit den Blicken.

Ruth errötete langsam, immer dunkler, ohne ein Wort zu sprechen.

Da, als sich Erik vom Frühstückstisch erhob, und Jonas wieder in den Garten laufen wollte, sprang Ruth hastig auf und sagte wild: »Dann lieber gleich!«

Die andern verstanden sie nicht recht, nur Erik, der sie unausgesetzt im Auge behalten hatte, entschlüpfte ein Laut der Überraschung.

»Jetzt gleich?« wiederholte er, »nein, mein Kind, das ist weder gut noch notwendig. Es wäre eine ebensolche Übertreibung wie das mit dem Nachtarbeiten. Und nach dieser Nacht bist du mir nicht fest genug dazu.«

»Ich bin fest!« versicherte sie fast flehend, »aber warten kann ich nicht auf etwas so Grausiges! Ich kann es nicht so heranschleichen sehen – Tag für Tag – immer näher – immer gewisser; – mit einer Schlange zusammenwohnen, vor der ich mich fürchte, – und die mit der ganzen Familie immer intimer wird, – – und nur auf mich lauert, – nein, das kann ich wirklich nicht!«

Erik lachte, sah aber dabei besorgt aus. Dies kam

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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