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stetig bergauf.
Im Anfang des Winters hat sie freilich noch viel aushalten müssen. Einmal sagte sie zu mir in trübem Scherz: ›Erik muß mich mit Gewalt dazu zwingen, gesund werden zu wollen.‹ Der Mann hat Eisen im Blut. Aber es hat ihn gehörig geschüttelt. Ich hab' ihn ein paar mal gesehen: blaß wie ein Tuch.«
Ruth lauschte stumm, ihre Hände verschlangen sich in ihrem Schoß, die Lippen öffneten sich halb, die Augen sagten immer nur: »Mehr!« Als Warwara schwieg, atmete sie tief auf.
»Er kann alles, was er will! Und das wollt' er so aus voller Seele, daß sie wieder gesund und glücklich sein sollte. Er hat dafür gelebt. Wie grenzenlos froh müssen sie jetzt sein! Nun, wo er alles zum Guten geleitet hat! Nun, wo es ist, wie er will: wo sie glücklich ist.«
Sie sprach hingerissen, ihre Augen blitzten.
Warwara betrachtete sie nachdenklich. Sie kam ihr gar nicht mehr, wie damals, so formell abgeschliffen und gewandt vor, sondern im Gegenteil wie ein Wesen, an dem alles Innenleben, und nichts mehr Form ist. Eine Seele, bis zum Rande gefüllt mit Hingebung und Gläubigkeit, – – und Liebe? Dann könnte sie nicht mit so kindlicher Unbefangenheit und Freude sprechen. Keine Liebe? Dann könnte sie nicht mit diesem Blick und diesem Ton sprechen.
Der Zug hielt. Sie stiegen aus.
Warwara bequemte sich dazu, eins der kleinen rasselnden Fuhrwerke zu benutzen, die am Stationsgebäude bereit standen und deren Kutscher sie sofort umschrien. Ruth hatte einen andern Weg. So trennten sie sich.
Warwara sah sich im Fortfahren noch wiederholt nach ihr um.
»Es ist da etwas, was nicht ins Leben gehört, – Poesie. Poesie im Konflikt mit dem Leben, – was ergibt das wohl?« dachte sie; – »es ist, wie wenn man die erste Seite eines Romans aufgeschlagen hätte, – o pfui, nein! – oder: die letzte eines Märchens.«
Ruth ging langsam hin zwischen den kahlen Birken am Wegrande, nicht in Hast, ein paar Minuten früher anzukommen. Mit einem lauschenden Gesichtsausdruck atmete sie den Frühling um sich herein, als ob er in tausend Blüten um sie stünde. Noch war er nicht da, man sah ihn nicht, – und doch war er da, in der Luft, in alles erfüllender unsichtbarer Gegenwart. Man hörte ihn: in einzelnen feinen kleinen Singstimmen sang er von den blattlosen Zweigen.
Der Himmel hatte sich schwach bedeckt, die Sonne schien nur in verhaltenem Glanze nieder, – Ton, Licht, Farbe wirkten gedämpft, verhüllt und wie eine Verheißung.
Und nun stand Ruth am alten Lattenzaun mit der knarrenden Gitterpforte. Sie öffnete, durchschritt den Garten und stieg zaudernd, leise ein paar Stufen zur Terrasse hinauf.
Vorsichtig nach vorn gebeugt spähte sie von der Seite her in das breite Fenster des Wohnzimmers, ob jemand darin anwesend sei.
Der Tisch war zum zweiten Frühstück gedeckt, hinter den Tellern mit kaltem Fisch und fleischgefülltem Gebäck dampfte der Samowar.
Jonas saß allein am Kamin. Er hielt eine lange Bratengabel in der Hand, an deren Zinken ein Brotscheibchen klebte, und ließ es an der roten Holzglut rösten. Wie er so dasaß, einen Arm nachlässig um die Stuhllehne geschlungen, in wartender Haltung, den Kopf mit den etwas zu fest geschlossenen Lippen hell vom Feuer bestrahlt, erinnerte er stark an Erik.
Das Scheibchen geriet zu nah an die Flammen, es glitt plötzlich von der Gabel und fiel hinein.
Jonas sah verdutzt aus. Er wandte sich um und spießte ein neues auf; diesmal gelang es besser.
Dann spülte er ein Teetopf kunstgerecht mit heißem Wasser aus und machte einen Aufguß. Dabei kamen seine Finger ungeschickt genug unter den geöffneten Hahn des Samowars, und ein siedender Strahl verbrühte ihm die Hand.
Jonas machte den Mund weit auf und fing an, auf einem Bein im Zimmer zu tanzen.
Vom Fenster erklang helles Gelächter.
Er blieb stehn, wie wenn ein Blitz von der Zimmerdecke vor ihm niedergefahren wäre. Mit einem ungläubigen Ausdruck richteten sich seine Augen, als trauten sie sich selbst nicht, nach dem Fenster.
Er streckte die Hände aus nach dem Bilde hinter der geschloßnen Scheibe, das ihn auslachte und das wie Ruth aussah; er wußte nicht, ob er Ruth träumte oder Ruth sah.
Aber im nächsten Augenblick schon hatte er das Fenster aufgerissen, so daß es dabei fast in Splitter zersprungen wäre, und heraus streckten sich die Hände nach dem lachenden Kopf und hielten ihn fest.
»Aber Jonas ! laß mich nur erst zur Tür hineinkommen!«
»Nein, – nicht!« murmelte er, als könnte sie ihm doch noch wieder wie ein Traumbild plötzlich entschwinden, »nicht abwenden, ich lass' dich nicht! Zum Fenster herein! Es muß gehn. Setz' den Fuß auf die Rampe, – ganz fest, – hörst du? Ich hebe dich.«
Sie sah ihn an: das da sagte er nun ganz so wie Erik.
Das Klettern hatte sie noch nicht verlernt. Mit einem Satz stand sie im Zimmer.
Er ließ sie los. Er trat zurück. Nun, wo sie vor ihm stand, nicht mehr hinter einer geschlossenen Scheibe, sanken ihm die Arme. Eine grenzenlose Befangenheit überkam ihn plötzlich.
»Wie ist es nur möglich, daß du da bist, – von wo bist du nur gekommen?« Er starrte sie an, als wäre er überzeugt, daß sie vom Himmel gefallen sei.
»Mit dem Blitzzug. Gestern abend. – Und – dein Papa?«
»Er müßte hier sein. Aber jetzt vergißt er die Zeit. Stundenlange Gänge macht er, allein, – seit Mamas Abreise.«
»O Jonas, – daß Mama gesund geworden ist, – nicht wahr? Ist es nicht wie ein Wunder, – immer noch?«
»Ja. Und jetzt werd ich auch Arzt. Weißt du's? Für den Fall, daß du später einmal krank wirst.«
Sie hatte sich an den Kamin gesetzt und betrachtete ihn mit freudigen, übermütigen Augen.
»Hoffentlich werd ich später einmal krank. – – Wie ist dir's nur ergangen, Jonas? Du schriebst nie.«
Er sah rot und verwirrt aus.
»Nie? Mir? Ja, ich mußte doch, – ich dachte ja, – – Du! willst du nicht eine Tasse Tee haben?«
»Nein, danke,« sagte sie lachend, »aber die Hauptsache ist: bald kommst du nach Heidelberg, nicht wahr? Wie herrlich, Jonas! Da studieren wir zusammen.«
»Ja,« versetzte er tief aufatmend, »– endlich! – bald! endlich! endlich zusammen! Ja, – siehst du: lang wär's so nicht mehr gegangen. – – hab' gelebt wie im Grabe,« fuhr er mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit fort, »– muß