Augen in der Großstadt

Bild zeigt Kurt Tucholsky
von Kurt Tucholsky

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
Mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück …
vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
Und zieht vorüber …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

„Augen in der Großstadt“ gehört fest zum Kurt Tucholsky-Repertoire in Schullesebüchern. Das Gedicht wurde von unterschiedlichen Künstlern wie Udo Lindenberg oder Jasmin Tabatabai vertont.

Veröffentlicht / Quelle: 
Lerne lachen ohne zu weinen. S. 383–384; Auflage 11.–15. Tausend; 1932 (Erstauflage 1931); Rowohlt - Berlin
Gedichtform: 
Thema / Schlagwort: 

Video:

Jasmin Tabatabai & David Klein Orchester live in der Synagoge Rykestrasse in Berlin am 15. September 2011
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