Dass uns nach all' der heissen Tagesglut
Nicht eine Nacht gehört . . .
Die Tuberosen färben sich mit meinem Blut,
Aus ihren Kelchen lodert's brandrot!
Sag' mir, ob auch in Nächten Deine Seele schreit,
Wenn sie aus bangem Schlummer auffährt,
Wie wilde Vögel schreien durch die Nachtzeit.
Die ganze Welt scheint rot,
Als ob des Lebens weite Seele blutet.
Mein Herz stöhnt wie das Leid der Hungersnot,
Aus roten Geisteraugen stiert der Tod!
Sag' mir, ob auch in Nächten Deine Seele klagt,
Vom starken Tuberosenduft umflutet,
Und an dem Nerv des bunten Traumes nagt.
Eine große Gruppe von Gedichten aus Else Lasker-Schülers erstem Gedichtband „Styx" bilden teilweise stark erotisch gefärbte Liebes- und auch Hassgedichte, die einen gewissen Einfluss der vitalistischen Lyrik Nietzsches, Hilles und Dehmels annehmen lassen, zugleich in der Zerrissenheit des sich kundgebenden lyrischen Ichs einen ganz neuen, eigenen Ton finden. Zu dieser Gruppe gehört auch das hier vorgestellte Gedicht „Nervus Erotis".