Ruth

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von Lou Andreas-Salomé

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Erzählung

Muschka
gewidmet

I.

In der Morgenstille war nichts vernehmbar als das helle, lang gezogene Trillern der kleinen Buchfinken im jungen Birkenlaub. Die breite, ungepflasterte Straße, die sich, nicht weit von der russischen Hauptstadt, in der Richtung der finnländischen Bahnlinie ins flache Land erstreckt, lag einsam im Frühnebel da. Dann holperte ein Leiterwagen, mit einigen Möbelstücken bepackt, schwerfällig des Weges; der Fuhrmann kletterte von seinem Sitz, warf den kurzen Schafpelz von den Schultern, und im roten Hemde neben seinen bei den magern Gäulen hergehend, stimmte er eine Volksweise an, die schwermütig in den Vogelgesang hineinklang.

Hinter den Birken tauchte hie und da ein Landhaus auf, meist ein Holzbau, mit geschlossenen Fensterläden und bretterverschlagener Balkontür; oder es schimmerte ein Garten hervor, wo man eifrig beschäftigt war, das Winterlaub zusammenzukehren und die Beete für den Sommer in Stand zu setzen. Aber erst nach Beginn der städtischen Schulferien wurde es in dieser Gegend lebendig.

Der Möbelwagen hielt vor einem Hause, das ganz abseits, weit entfernt von jeder Nachbarschaft, zwischen niedrigem Weidengebüsch und etwas feuchtem Wiesengrund lag. Es war nicht sonderlich groß, besaß aber von allen den schönsten Garten. Die Frühlingsbäume, die es umstanden, breiteten einen zarten bräunlichen Schleier darüber, und rings über den verwitterten Lattenzaun drängte sich der Flieder in hellgrünen Blattknospen.

»Die Pforte von außen aufstoßen!« schrie eine vergnügte Stimme in gebrochenem Russisch dem Fuhrmann entgegen, und gleich darauf kam ein halbwüchsiger Knabe durch den Garten gelaufen. Langsam bewegte sich der Wagen über den Kies weg bis hinter das Haus, wo einige Stufen zur offenen Terrasse mit der Eingangstür emporführten.

Eine ältliche Magd, mit einer sonderbaren Friesenhaube auf dem Kopf, wartete schon unten, griff kräftig mit an und ließ die abgeladenen Möbelstücke in dem Wohnzimmer niedersetzen, das mit seinem breiten Fenster auf die Terrasse hinaussah. Im Wohnzimmer stand die Tür zu einem kleinern Nebengemach auf, das bereits vollständig eingerichtet zu sein schien. Von den Sachen, die man beim Auszug aus der Stadtwohnung im gemieteten Landhause vorgefunden hatte, war offenbar alles Beste und Bequemste hier zusammengetragen worden, um Ordnung und Gemütlichkeit zu schaffen.

An der Tür lag auf einem deckenumhangenen Ruhebett eine bleiche, nicht mehr junge Frau, deren feine Gesichtszüge jedoch Spuren ungewöhnlicher einstiger Schönheit zeigten. Unter den halbgesenkten Augenlidern folgte sie aufmerksam jeder Bewegung der Kommenden und Gehenden.

Da vernahm sie von der Terrasse her eine Stimme, bei der ein Lächeln durch die großen blauen Augen ging.

»Erik!« rief sie bittend, »komm doch her zu mir. Komm doch her.«

Er stand vor dem Terrassenfenster, in dunkler Morgenjoppe, die Hände in den Seitentaschen versenkt, zwischen den Zähnen eine Zigarette. Auf den Zuruf seiner Frau wandte er sich um und ging in das Zimmer.

Ihr schien immer: ein Strom von Leben käme mit ihm, wenn er so zu ihr trat.

»Nun, Bel,« sagte er heiter, »du sollst sehen, jetzt bricht die Sonne durch den Nebel, und dann trag' ich dich in den Garten hinaus. Deinen großen Liegestuhl haben wir schon dort hinten am Springbrunnen aufgestellt.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe keine Ruhe draußen, solange hier alles noch in solcher Verwirrung ist. Wie mag es nur in deinen Zimmern aussehen, Erik? Seitdem wir gestern herkamen, habt ihr nur für mich gesorgt. Ach, weißt du, das ist das schlimmste: im ganzen Leben wird nichts mehr recht ordentlich werden. Alles wird herumliegen.«

»Aber, Bel!« versetzte er spottend, »welchen Sinn hätt' es auch sonst, aufzuräumen? Was sind das für Sorgen und Schmerzen!«

Doch Klare-Bel stimmte in den scherzenden Ton nicht mit ein, sondern sah betrübt vor sich hin. Da fügte er ungeduldig hinzu: »Damit mußt du dich ernstlich abfinden. Nicht immer wieder davon anfangen. Sicherlich bist du dazu geschaffen, als die peinlichste aller Hausfrauen hinter der blitzendsten aller Teemaschinen zu sitzen, und mußt nun statt dessen jahraus, jahrein daliegen und es untätig mit ansehen, wie deine beiden männlichen Hausfrauen, Jonas und ich, es sorglos treiben. Das ist schwer, ich weiß. Es ist schwer, sein Talent zu unterdrücken. Aber es kann dir nicht erspart werden, du mußt es endlich überwinden.«

»Jonas könnte mir darin fast wie eine Tochter sein, Erik, wenn du nur wolltest.«

»Daß er wie eine Tochter wäre? Nein, natürlich will ich das nicht. Wie kannst du nur solchen Unsinn reden, Bel.«

»Es ist kein Unsinn, Erik. Du bist so streng gegen ihn, und daher ist er gegen dich oft schüchtern, geht nicht recht aus sich heraus. Aber mir zu dienen macht ihm Freude – auch in den häuslichen Dingen. Kannst du mir diese Freude nicht lassen?«

»Nein,« sagte er kurz, »nicht so, wie du es meinst. Ich wünsche nicht, daß er verweiblicht wird. An mir ist es, dir zu dienen –«

Er brach ab, weil die Magd hereintrat; sie wollte den Fuhrmann ablohnen.

Erik legte Geld auf den Tisch, der, noch staubig, in die Mitte der Stube gesetzt worden war.

»Dies ist das Trinkgeld, Gonne. Nein, es ist nichts darauf herauszugeben. Wenig genug für viel Arbeit.«

Als sie hin ausgegangen war, blickte er mit einem unterdrückten Lächeln in den Geldbeutel und dann zu seiner Frau hinüber.

»Wir haben entsetzlich viel Geld, Bel. Natürlich. Wer sollte es uns auch in diesem Winkel abnehmen. Nicht wahr?«

»Ach, Erik, das kann doch gar nicht sein. In diesem ›Winkel‹ haben wir uns eins der teuersten Landhäuser ausgesucht. Ich habe ja nichts dagegen zu sagen gewagt. Aber wenn du wüßtest, wie es mich im stillen drückt. Denn du bist es ja, der seine ganze Kraft aufwenden muß, um das viele Geld zu verdienen.«

»Meine ganze Kraft aufwenden!« wiederholte er langsam, »wie schade ist es doch, Bel, daß es nicht wahr ist. Ich glaube fast, das wäre so schön, daß ich's sogar umsonst täte! Es dürfte dann freilich nicht bei den paar armseligen Schulstunden bleiben. – Nein du, in diesem heiligen Lande vergess' ich bald, daß ich überhaupt Kraft aufzuwenden habe. Und da wollen wir uns doch wenigstens des Lebens freuen, wenn – ich Geld habe. Sind wir nicht ganz eigens dazu vor einem halben Jahr hier her gepilgert?«

Sie hörte nicht die Ironie aus seinem Ton heraus.

»Nun ja, Erik, es ist nur gut, daß dir immer alles zu leicht und zu wenig scheint,« sagte sie, »du hast eine solche merkwürdige Frische. Aber ich wüßte doch wahrhaftig nicht, wo du beim besten

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Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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