Wer war Dora Diamant: Die letzte Frau an Kafkas Seite
Dora Diamant war weit mehr als nur die letzte Gefährtin des Schriftstellers Franz Kafka. Geboren in einer orthodox-jüdischen Familie, rebellierte sie früh gegen traditionelle Zwänge und prägte das literarische Erbe Kafkas maßgeblich. Ihre Biografie zeugt von Flucht, künstlerischer Leidenschaft und politischem Engagement in den Wirren des 20. Jahrhunderts – eine ungewöhnliche Geschichte, die weit über die Rolle der „letzten Frau an Kafkas Seite“ hinausweist.
Geboren am 4. März 1898 (nach anderen Angaben 1897) im polnischen Pabianice in eine streng orthodox-jüdische Familie, verkörpert sie die Widersprüche und Umbrüche eines turbulenten 20. Jahrhunderts. Als faszinierende Akteurin zwischen religiöser Tradition und literarischer Moderne ragt sie auch über ihre Beziehung zu Kafka hinaus. Ihr Lebenslauf ist das Porträt einer selbstbestimmten Frau, die inmitten politischer Umwälzungen, religiöser Dogmen und persönlicher Verluste ihren Weg ging – und damit eine Brücke schlug zwischen der privaten Sphäre Kafkas und einer Weltliteratur, die von Verfolgung und Exil ebenso geprägt war wie von intellektuellen Neuerungen.
Kindheit und Aufbruch: Die Befreiung aus chassidischen Strukturen
Dora Diamant wuchs in einer wohlhabenden chassidischen Familie auf. Ihr Vater, Abraham Diamant, stammte aus einer strenggläubigen Linie, die ihren Ursprung unter anderem in Brest-Litowsk (Brest) hatte. Die Frömmigkeit im Elternhaus war prägend, doch Dora sehnte sich nach geistiger wie gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Mit 18 Jahren, so die meisten biografischen Quellen, kehrte sie den chassidischen Regeln den Rücken und ging nach Berlin. Dort erwarb sie eine Ausbildung zur Erzieherin und knüpfte Kontakte in literarischen, politisch linken und aufgeklärten jüdischen Kreisen. Sie las viel – nicht nur hebräische und jiddische Texte, sondern auch die moderne deutschsprachige Literatur.
Gerade die Emanzipation vom orthodoxen Elternhaus lässt bereits den Wesenszug erkennen, der sie später so prägend machte: Dora war eine Frau, die auch in widrigen Zeiten kompromisslos ihre Überzeugungen vertrat und sich leidenschaftlich für ihre Freiheit einsetzte.
Die Begegnung mit Kafka: Sommer in Graal-Müritz
Als Dora Diamant im Sommer 1923 den 40-jährigen Franz Kafka im Ostseebad Graal-Müritz traf, war sie Mitte zwanzig. Kafka, der seit Jahren an Tuberkulose litt, suchte Erholung am Meer. Von Anfang an war die Verbindung zwischen den beiden von großer Intimität und gemeinsamer Begeisterung für Literatur und Religion geprägt.
In Briefen bezeichnete Kafka sie liebevoll als „Mädel“ und erweckte rasch den Wunsch, sie zu heiraten. Zwar blieb die Eheschließung aus formalen Gründen (und wohl auch aufgrund von Kafkas schwindender Gesundheit) aus, doch Dora gab seinem Leben in den letzten Monaten entscheidenden Halt. Sie teilten eine Neugier für moderne Kultur, lasen gemeinsam und diskutierten jüdische Themen ebenso wie gesellschaftspolitische Entwicklungen.
Berlin: Liebe in Krisenzeiten
Im Herbst 1923 beschlossen Kafka und Dora, zusammen nach Berlin-Steglitz zu ziehen. Untergebracht waren sie in der Löwenstraße 6, einem einfachen Quartier, das sie sich mit wenig Einkommen leisten konnten. Das Nachkriegs-Berlin war zu dieser Zeit von Inflation, politischer Radikalisierung und wirtschaftlicher Not geprägt. Kafkas Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends, doch Dora betreute ihn aufopferungsvoll. In dieser Phase soll Kafka Teile seiner späteren Erzählungen, darunter Manuskripte zum „Hungerkünstler“, weitergeführt haben.
Dora war in dieser Zeit nicht nur Pflegerin, sondern auch Vertraute und intellektuelle Gefährtin. Sie bewahrte einige der wertvollen Manuskripte, die Kafka nicht verbrannt hatte. Ihr heutiger Stellenwert für die Kafka-Forschung ist enorm, obgleich ein Teil dieser Unterlagen später von der Gestapo beschlagnahmt wurde und bis heute verschollen ist.
Die letzten Wochen: Kierling bei Wien
Ab April 1924 zeichnete sich endgültig ab, dass Kafkas Gesundheit sich dramatisch verschlechterte. Dora begleitete ihn in das Sanatorium nach Kierling bei Klosterneuburg nahe Wien. Die letzten Tage und Wochen seines Lebens verbrachte Kafka abgemagert und zunehmend schwach; Dora war fast ununterbrochen bei ihm. Sie bemühte sich, seinen Wünschen gerecht zu werden und darauf zu achten, dass er koscheres Essen erhielt, was ihm als in der jüdischen Tradition verwurzeltem Menschen sehr wichtig war.
Am 3. Juni 1924 starb Franz Kafka mit nur 40 Jahren. Dora empfing die Beileidsbekundungen, sorgte für die notwendigen Arrangements und reiste wenig später nach Berlin zurück. Obwohl Dora und Kafka nie offiziell verheiratet waren, blieb sie für viele Zeitgenossen die „letzte Frau an Kafkas Seite“, eine mysteriöse und faszinierende Figur, die Kafkas Lebensausklang geprägt hatte.
Schauspiel, Politik und Verfolgung: Doras Weg in den Exiljahren
Nach Kafkas Tod wandte sich Dora Diamant verstärkt der Schauspielerei zu. Zwischen 1926 und 1930 war sie an Theatern in Berlin und Düsseldorf engagiert und versuchte, sich künstlerisch zu etablieren. In dieser Zeit lernte sie den Journalisten und Ökonomen Lutz Lask kennen, der als Redakteur bei der kommunistischen „Roten Fahne“ arbeitete. Dora trat 1930 der KPD bei – ein Schritt, der ihre klare politische Haltung belegte.
Im Jahr 1932 heirateten Diamant und Lask. Die gemeinsame Tochter, Franziska Marianne, kam am 1. März 1934 zur Welt. Doch das nationalsozialistische Regime gewann rasant an Einfluss, und Dora geriet nach 1933 zunehmend in Gefahr. Da Lask bereits in die Sowjetunion emigriert war, entschied Dora, 1936 mit der Tochter und den Schwiegereltern ebenfalls nach Moskau zu gehen.
Die Zeit in der UdSSR, die sie zunächst als hoffnungsvolle Alternative zum erstarkenden Nationalsozialismus betrachteten, endete katastrophal: Lutz Lask wurde 1937 im Zuge der stalinistischen Säuberungen verhaftet und verschwand in den Lagern. Dora, nun wieder allein auf sich gestellt, floh 1938 aus der Sowjetunion in den Westen.
London und das Erbe Kafkas
Während des Zweiten Weltkriegs gelangte Dora nach Großbritannien und wurde dort zunächst als „Enemy Alien“ auf der Isle of Man interniert. Nach ihrer Freilassung ließ sie sich in London nieder und versuchte, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ihre Vergangenheit als Schauspielerin und politisch aktive Jüdin mit sowjetischen Verbindungen machte die Lage nicht leichter.
Dora Diamant starb am 15. August 1952 in London an den Folgen eines Nierenversagens. Vieles, was von ihrem bewegten Leben blieb, sind Fragment und Spuren: Briefe, Tagebucheinträge sowie die Erinnerungen von Freunden und Familie. Ihre Tochter überlebte sie und verwahrte Teile der Familiengeschichte.
Die unvollendete Suche: Kafkas Manuskripte und Doras Vermächtnis
Einen besonderen Platz in der Biografie Doras nimmt die Bewahrung jener Kafka-Manuskripte ein, die nach Kafkas Tod in ihrem Besitz verblieben. 1933 beschlagnahmte die Gestapo bei einer Hausdurchsuchung in Berlin die meisten dieser Unterlagen – eine Spur, die bis heute nicht restlos aufgeklärt ist. Die Suche nach den verschollenen Dokumenten gilt vielen Kafka-Forscherinnen und Forschern als literarischer Kriminalfall, der das Erbe einer der bedeutendsten Stimmen der Moderne unvollständig lässt.
Dora hatte damit ungewollt eine Schlüsselposition in der Kafka-Rezeption: Ohne sie und ihren Einsatz wären einige handschriftliche Zeugnisse Kafkas möglicherweise vernichtet worden. Zugleich illustriert das Schicksal der konfiszierten Papiere die politischen Wirren jener Zeit, in denen selbst unschätzbare literarische Zeugnisse leicht verloren gingen.
Zwischen Kafkaeskem und historischem Realismus
Dora Diamants Leben spiegelte in mancher Hinsicht das Kafkaeske wider: Sie erlebte staatliche Verfolgung, Flucht, entfremdende Bürokratien und das Gefühl, als Jüdin, Frau und politisch Aktive immer wieder an die Ränder gedrängt zu werden. Doch sie verließ sich nicht auf einen melancholischen Fatalismus, sondern suchte aktiv Auswege – ob durch berufliche Selbstverwirklichung, politisches Engagement oder die immer neue Flucht vor totalitären Regimen. In diesem Spannungsverhältnis liegt eine bemerkenswerte Kraft, die bis heute fasziniert.
Schlussbetrachtung
Dora Diamant steht beispielhaft für die Generation jüdischer Intellektueller und Künstler im Europa des 20. Jahrhunderts, deren Leben sich häufig zwischen religiösem Erbe und säkularem Aufbruch, zwischen kreativer Entfaltung und brutaler Verfolgung bewegte. Als „letzte Frau an Kafkas Seite“ ist sie in die Literaturgeschichte eingegangen. Als eigenständige Persönlichkeit bewahrte sie jedoch nicht nur einen Teil von Kafkas Nachlass, sondern setzte sich mit beeindruckendem Mut für politische Ideale und kulturelle Offenheit ein.
Ihr Name ist damit zugleich ein Symbol für Selbstbehauptung, für die Brüche einer Epoche und für die Verantwortung, das geistige Erbe bedeutender Autoren wie Franz Kafka vor dem Vergessen zu retten. Dora Diamant verdient es, über ihre Rolle in Kafkas Biografie hinaus als eigenständige Protagonistin im Drama des 20. Jahrhunderts gewürdigt zu werden.