Kafkaesk: Definition und Beispiele aus Kafkas Werk und der Gegenwart

29. November 2024
Absurd, surreal und beunruhigend

Franz Kafka ist nicht nur einer der einflussreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, sondern auch Namensgeber eines Begriffs, der weit über die Literatur hinaus bekannt ist: »kafkaesk«. Doch was bedeutet kafkaesk eigentlich, und wie spiegelt es sich in Kafkas Werken und unserer heutigen Welt wider?

von Literat Pro
Bild zeigt eine Kafkaeske Szene - Käfer auf einem Bett
Gregor Samsa, in ein Ungeziefer verwandelt.

Was bedeutet »kafkaesk«?

Der Begriff »kafkaesk« beschreibt Situationen, die absurd, surreal und oft zutiefst beunruhigend sind. Es geht um eine Atmosphäre des Kontrollverlusts, in der Individuen mit undurchsichtigen Machtstrukturen oder einer unverständlichen Logik konfrontiert werden. Kafkaeske Szenarien sind geprägt von Bürokratie, Entfremdung und dem Gefühl, einer unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Macht ausgeliefert zu sein.

Wichtig ist, dass »kafkaesk« nicht nur die äußeren Umstände beschreibt, sondern auch die psychologische Wirkung auf die betroffenen Menschen: Verwirrung, Angst und der Verlust von Orientierung.

Kafkaeske Beispiele aus Kafkas Werk

Neben seinen bekanntesten Werken wie Die Verwandlung und Der Prozess gibt es in Franz Kafkas Schaffen zahlreiche weitere Texte, die die kafkaeske Stimmung eindrucksvoll verkörpern. Fragmente wie Beim Bau der Chinesischen Mauer oder kürzere Erzählungen wie Ein Bericht für eine Akademie zeigen Kafkas Fähigkeit, existenzielle Themen und absurde Situationen mit sprachlicher Präzision und einer eigentümlichen Mischung aus Humor und Tragik darzustellen.

  1. Die Verwandlung - In dieser Erzählung erwacht der Protagonist Gregor Samsa eines Morgens und stellt fest, dass er sich in ein riesiges Ungeziefer verwandelt hat. Doch statt Panik oder einem klaren Sinn hinter dieser Verwandlung herrscht ein beunruhigender Pragmatismus: Gregor und seine Familie versuchen, mit der absurden Situation weiterzuleben. Die kafkaeske Stimmung entsteht durch die emotionale Distanz, die absurde Natur der Verwandlung und das zunehmende Gefühl der Isolation.
  2. Der Prozess - Josef K., ein unbescholtener Bankangestellter, wird eines Morgens ohne Angabe von Gründen verhaftet. Der Prozess, der folgt, ist ein undurchdringliches Netz aus Bürokratie, kafkaesker Logik und Schuldzuweisungen. Trotz aller Versuche, seine Unschuld zu beweisen, bleibt K. Opfer einer unsichtbaren Macht. Das Werk ist eine meisterhafte Darstellung von Ohnmacht und existenzieller Verzweiflung.
  3. Beim Bau der Chinesischen Mauer - Diese fragmentarische Erzählung beleuchtet die schier endlosen Bemühungen um den Bau der Großen Mauer, die scheinbar keinen Anfang und kein Ende hat. Die Arbeiter verstehen weder die übergeordnete Planung noch den Sinn ihrer Tätigkeit. Statt einer kohärenten Struktur gibt es Bruchstücke und das Gefühl, dass der Bau nur um seiner selbst willen existiert. Die kafkaeske Absurdität zeigt sich in der Unübersichtlichkeit der Organisation und der Entfremdung der Menschen, die in ein riesiges System eingespannt sind, dessen Zweck sie nicht erfassen können.

Kafkaesk in der Realität

Die kafkaeske Atmosphäre findet sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in realen Situationen:

  1. Bürokratie - Der endlose Papierkrieg, das Durchwühlen von Formularen und die scheinbar unüberwindbare Hürde, einen einfachen Antrag genehmigt zu bekommen, sind klassische Beispiele. Man fühlt sich wie Josef K., der gegen ein System kämpft, das weder logisch noch nachvollziehbar erscheint.
  2. Totalitäre Systeme - Kafkaeske Elemente finden sich oft in politischen Regimen, wo Menschen von undurchschaubaren, allmächtigen Institutionen kontrolliert werden. George Orwells 1984 greift diese Thematik auf und erweitert sie um kafkaeske Motive der Überwachung und Entmenschlichung.
  3. Technologie und Algorithmen - In unserer digitalisierten Welt gibt es viele kafkaeske Szenarien. Ein Beispiel wäre, wenn ein Algorithmus jemanden für einen Kredit ablehnt, ohne die genauen Gründe zu erklären. Der Betroffene steht einer unsichtbaren Macht gegenüber, die sein Leben beeinflusst, aber unerreichbar bleibt.

Kafkaesk in der Kunst und Popkultur

Die kafkaeske Atmosphäre hat viele Künstler inspiriert:

  • Film: Werke wie Terry Gilliams Brazil oder Charlie Kaufmans Synecdoche, New York sind durch ihre surrealen, düsteren und absurden Darstellungen von Kontrollverlust und Bürokratie tief kafkaesk.
  • Literatur: Autoren wie Samuel Beckett und Albert Camus greifen oft kafkaeske Themen wie Sinnlosigkeit und Entfremdung auf.
  • Videospiele: In Spielen wie Papers, Please erleben Spieler kafkaeske Situationen, in denen sie zwischen unmoralischen Entscheidungen und bürokratischen Zwängen gefangen sind.

Die Wortherkunft von »kafkaesk«

»Kafkaesk« leitet sich vom Nachnamen Franz Kafkas ab und fand seinen Ursprung im englischen Sprachraum, wo der Begriff „Kafka-esque“ erstmals 1939 nachgewiesen wurde. Im Deutschen tauchte zuvor das Adjektiv »kafkisch« auf, das sich jedoch nicht durchsetzen konnte und später von »kafkaesk« verdrängt wurde. Der Duden nahm das Wort 1973 in seine 17. Auflage auf, womit es endgültig in den deutschen Sprachgebrauch überging. Ohne die Arbeit von Max Brod, der Kafkas Nachlass trotz dessen Wunsch, ihn zu vernichten, veröffentlichte, wäre der Begriff jedoch vermutlich nie in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen.

Ursprünglich wurde »kafkaesk« ausschließlich innerhalb der Literaturwissenschaft verwendet, um den Stil und die besonderen Themen von Kafkas Werken zu beschreiben. Doch mit der Zeit wurde es zunehmend auf außerliterarische Phänomene übertragen, um komplexe, absurde und beunruhigende Situationen zu charakterisieren. Eine interessante Beobachtung dazu stammt von Sprachwissenschaftlern: Sie vermuten, dass die Ähnlichkeit zu »grotesk« – einem bereits etablierten Begriff – die Verbreitung von »kafkaesk« im Deutschen erleichtert hat.

Heute dient das Wort nicht nur als Beschreibung für kafkaeske Stimmungen in der Literatur, sondern auch für das Lebensgefühl in einer Welt, die oft unverständlich und widersprüchlich erscheint. Der Begriff spiegelt damit Kafkas Zeitlosigkeit wider: Er beschreibt Erfahrungen, die weit über sein Werk hinausgehen.

Warum fasziniert uns das Kafkaeske?

Kafkaeske Geschichten und Situationen zwingen uns, die scheinbare Rationalität unserer Welt zu hinterfragen. Sie zeigen, wie fragil unser Verständnis von Kontrolle, Logik und Identität sein kann. Gerade in einer Welt, die immer komplexer wird, bietet das Kafkaeske eine Möglichkeit, über die Absurditäten des Lebens zu reflektieren – und sie vielleicht auch mit einem Hauch schwarzen Humors zu akzeptieren.

Schlussbetrachtung: Die zeitlose Relevanz des Kafkaesken

»Kafkaesk« beschreibt nicht nur eine literarische Stimmung, sondern auch eine philosophische Auseinandersetzung mit der modernen Welt. Ob in Kafkas Werken, im alltäglichen Kampf mit Bürokratie oder in der Kunst: Die kafkaeske Atmosphäre bleibt zeitlos und universell. Sie erinnert uns daran, wie leicht der Mensch in die Absurdität und die Ohnmacht abdriften kann – ein Zustand, den Kafka selbst in seiner Beziehung zu seinem autoritären Vater Hermann Kafka oft erlebte.