Der Fahrgast

Bild zeigt Franz Kafka
von Franz Kafka

Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich aussprechen, welche Ansprüche ich in irgend einer Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich kann es gar nicht verteidigen, daß ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhn. – Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig.

Der Wagen nähert sich einer Haltestelle, ein Mädchen stellt sich nahe den Stufen, zum Aussteigen bereit. Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte.

Sie ist schwarz gekleidet, die Rockfalten bewegen sich fast nicht, die Bluse ist knapp und hat einen Kragen aus weißer kleinmaschiger Spitze. Die linke Hand hält sie flach an die Wand, der Schirm in ihrer Rechten steht auf der zweitobersten Stufe. Ihr Gesicht ist braun, die Nase, an den Seiten schwach gepreßt, schließt rund und breit ab. Sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der rechten Schläfe. Ihr kleines Ohr liegt eng an, doch sehe ich, da ich nahe stehe, den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den gebogenen Schatten an der Wurzel.

Ich fragte mich damals: Wieso kommt es, daß sie nicht über sich verwundert ist, daß sie den Mund geschlossen hält und nichts dergleichen sagt.

Veröffentlicht / Quelle: 
Kafka, Franz. Der Fahrgast. Hyperion. Eine Zweimonatsschrift, herausgegeben von Franz Blei und Carl Sternheim, Jan./Feb. 1908, München.

Interpretation / Analyse von „Der Fahrgast“

Franz Kafkas kurzer Text „Der Fahrgast“ behandelt zentrale Themen wie Identität, Unsicherheit und die Isolation des Individuums in einer modernen, urbanen Welt. Der Erzähler schildert in einer für Kafka typischen Weise seine innere Zerrissenheit und die gleichzeitige Faszination für einen scheinbar banalen, alltäglichen Moment.


1. Existenzielle Unsicherheit

Der Erzähler beginnt den Text mit einer starken Betonung seiner Unsicherheit in Bezug auf seine Stellung in der Welt, der Stadt und seiner Familie. Dies ist ein klassisches kafkaeskes Motiv: das Gefühl, weder einen festen Platz noch eine klare Daseinsberechtigung zu haben. Die scheinbare Banalität der beschriebenen Szene – das Stehen auf der Plattform eines Straßenbahnwagens – wird durch die existenzielle Krise des Protagonisten überhöht. Sein Unvermögen, einen Anspruch oder eine Rechtfertigung für sein Dasein zu finden, lässt ihn in einem Zustand der Verlorenheit und Isolation zurück.


2. Beobachtung des Mädchens

Die präzise, beinahe überdeterminierte Beschreibung des Mädchens lenkt den Fokus vom Erzähler auf eine äußere Person. Diese Verschiebung könnte als Versuch interpretiert werden, die eigene Unsicherheit zu verdrängen oder in der Beobachtung eines anderen Wesens Halt zu finden. Doch statt Nähe zu schaffen, verstärkt diese detaillierte Beobachtung die Distanz. Das Mädchen bleibt unerreichbar und fremd.

Die Aufmerksamkeit auf Details – wie den Schirm, die Haarstruktur und den Schatten hinter der Ohrmuschel – zeigt eine obsessive Fokussierung, die typisch für Kafkas Protagonisten ist. Gleichzeitig unterstreicht die Frage des Erzählers, warum das Mädchen nicht „verwundert“ über ihre eigene Existenz sei, den Kontrast zwischen seiner tiefen Selbstzweifelhaftigkeit und der scheinbaren Unbekümmertheit des Mädchens.


3. Das Schweigen und die Absurdität

Die Verwunderung darüber, dass das Mädchen nicht spricht oder Fragen zu ihrer Existenz stellt, spiegelt die eigene Unfähigkeit des Protagonisten wider, seine Rolle in der Welt zu begreifen. Das Schweigen des Mädchens wird zu einem Symbol für die Sinnlosigkeit, die der Erzähler in seiner Existenz erkennt. Diese Absurdität – die Diskrepanz zwischen einer banalen Alltagsszene und den existenziellen Fragen, die der Erzähler daran knüpft – verleiht dem Text seine kafkaeske Qualität.


4. Symbolik der Straßenbahn

Die Straßenbahn, ein Symbol der modernen, urbanen Welt, trägt den Erzähler passiv durch die Stadt. Er hält sich lediglich an der „Schlinge“ fest und lässt sich treiben, was seine Passivität und sein Gefühl der Orientierungslosigkeit unterstreicht. Die anderen Passanten („Leute, die dem Wagen ausweichen oder still gehen“) erscheinen ihm als statische Figuren, die keinen Bezug zu ihm haben, was seine Isolation und Entfremdung weiter betont.


5. Fazit

„Der Fahrgast“ ist ein kurzer, aber tiefgründiger Text, der Kafkas typische Themen von Unsicherheit, Isolation und Absurdität behandelt. Der Erzähler ist gefangen zwischen der banalen Realität und einer tiefen existenziellen Krise. Das Mädchen fungiert als Projektionsfläche für seine Sehnsucht nach Sinn und Klarheit, bleibt jedoch ebenso rätselhaft wie die Welt um ihn herum.

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