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ein. Nach einer ungewöhnlich kurzen Wartezeit von nur 65 Minuten war denn auch seine Zeit gekommen. Lächelnd und mit einem fröhlichen Gruß auf den Lippen, so wie es im kleinenbürgerlichen Katechismus der demokratischen Haltung geschrieben stand, überreichte unser Softwaretester sein Plastikteil – die Phones in Silber- und Golddesign blieben nur den beiden höchsten Klassen der demokratischen Gesellschaft vorbehalten - einem desinteressiert blickenden Uniformierten, der wortlos das Gerät per USB mit seinem Kontrollterminal verband. Überrascht und mit einem hämischen Grinsen registrierte der Vollzugsbeamte den Viertklässler zum ersten Mal bewusst. Dann besann sich unser Kontrolleur und verfuhr nach der vorgeschriebenen Standartprozedur.
‚Kleinbürger, begeben Sie sich bitte für eine Routinekontrolle in den dafür vorgesehenen Wartebereich. Ihr Bürgerphone wird zu einem späteren Zeitpunkt den Sicherheitskräften übergeben. Vielen Dank für Ihre Kooperation.‘
Als gehorsamer Bürger mit Haltung begab sich Alexander in die sich kurz hinter den Kontrollstellen befindliche, völlig leere und verdreckte Sicherheitszone. Leicht verwirrt und fieberhaft suchte sein viertbürgerlicher Geist nach möglichen Regelverletzungen, die das Interesse seiner Obrigkeit hätte erwecken können. Vielleicht war das die Konsequenz daraus, dass er vor drei Monaten eine Bemerkung seines Testmanagers aus Unachtsamkeit überhörte? Aber dieses unerhörte Verhalten wurde im üblichen Rahmen unmittelbar mit einer Ohrfeige und 120 Liegestützen geahndet; denn merke: Kleine Sünden bestraft der Herr sofort. Dann überlief es ihn eiskalt, hatte er nicht betrunken vor zehn Jahren als Studiosus eine halbe Zigarette, die er während einer Party von einem sich in Geberlaune befindlichen Elitestudenten der 2. Klasse geschenkt bekam, geraucht? Ein schweres Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz, das nicht unter fünf Jahren Zuchthaus geahndet wurde, da nikotinhaltige Rauschmittel nur den oberen beiden Bürgerklassen erlaubt waren. Aber nein, im Falle einer solchen Straftat hätte ein Sondereinsatzkommando sein bescheidenes Souterrainzimmerchen während seiner knapp bemessenen Freizeit gestürmt. Schließlich kannte er derartiges aus den Reality Soaps des demokratischen Staatsfunks. Nach einer guten halben Stunde ratlosen Wartens erschienen zwei schwarzgewandete Angehörige des DSDS. Der Ältere von beiden, seines Zeichens Hauptoberkorporal, betrachtete den einsam wartenden Viertklässler gleichmütig.
‚Kleinbürger Parvus?‘
‚Kleinbürger Alexander Parvus, Sozialversicherung 123456789-0, Bürger 4. Klasse, Work-Live-Balance-Status: Expandable. Zu Ihren Diensten, meine Herren!‘
Antwortete Alexander gehorsamst gemäß dem kleinbürgerlichen Katechismus.
‚Hinsichtlich einer Routinekontrolle eskortieren wir Sie nun zum für Sie zuständigen Amtsgericht. Zu Ihrer Sicherheit möchten wir Sie bitten, diese rote Plakette an Ihrem Anzug zu befestigen und Ihre Arme zwecks anlegen von Handfesseln vorzustrecken. Im Falle einer undemokratischen Verweigerungshaltung sind wir im Rahmen der Direktive 1933 der Magna Mater befugt, äußerste physische Gewalt anzuwenden. Vielen Dank für Ihre Kooperation!‘
Zur sichtbaren Enttäuschung der freundlichen Ordnungskräfte tat Parvus wie ihm befohlen und ließ sich widerstandslos zum schwer gepanzerten DSDS-Fahrzeug eskortieren, in dessen Gefangenenbereich er dann auch recht unsanft bugsiert wurde. Zu seinem Erstaunen befand als weiterer ‚Fahrgast‘ sein Chef und Testmanager Adalbert Regressio, gekleidet mit silbern etikettiertem Tweet, in der spartanisch ausgestatteten Kabine. Ehrfurchtsvoll betrachte Alexander den schlecht geschneiderten Maßanzug seines Chefs. Als Bürger 4. Klasse war es dem tapferen Testerlein nur erlaubt, einfache und graufarbige Konfektionsware zu tragen.
‚Guten Morgen Herr Regressio, zu Ihren Diensten!‘
‚Spinnen Sie Parvus? Ist Ihnen eigentlich klar, was hier gerade passiert? Dieser Morgen ist alles, aber bestimmt nicht gut!‘
‚Sehr geehrter Herr Vorgesetzter, wenn mir eine Bemerkung erlaubt sein dürfte?‘
‚Reden Sie Parvus!‘
Unser Kleinbürger blickte seinen Herrn verschwörerisch an.
‚Mein Chef, die Herren vom DSDS haben mir verraten, dass dies hier nur eine Routinekontrolle ist. Also keine Sorge Herr Testmanager!‘
‚Die hellste Birne im Kronleuchter waren Sie ja noch nie Parvus. Ich wurde gezielt vor meiner Wohnungstür verhaftet und jetzt kommen Sie mir nicht mit Missverständnis. Am besten Sie halten jetzt den Mund und sammeln sich für das Bevorstehende!‘
Tief enttäuscht von seinem Vorgesetzten, denn Pessimismus war nach kleinbürgerlichem Katechismus zutiefst undemokratisch, schwieg Alexander wie ihm geheißen.
Nachdem sich das Fahrzeug noch mit einigen Parvus unbekannten Blau- und Rotettiketierten gefüllt hatte, ertönte der Lautsprecher im Inneren des Gefangenentransporters:
‚Bürger und Kleinbürger. Sie werden nun zu Ihrem für Sie zuständigen Amtsgericht verbracht. Wir möchten Sie bitten, während der Fahrt und bis zur Urteilsfindung durch den für Sie zuständigen AI-Richter zu schweigen. Im Falle einer antidemokratischen Verweigerungshaltung sind wir berechtigt, gemäß der Direktive gegen unnötige Polizeigewalt äußerste physische Sanktionen auszuüben. Diese können beispielsweise darin bestehen, den Schutzhaftbereich des Gefangenentransporter mit Betäubungsgas zu fluten oder Sie während des Prozesses mittels eines Schlagstockes zu sedieren. Vielen Dank für Ihre Kooperation.‘
In seiner Verwirrung vermochte der Viertklässler keinen vernünftigen Gedanken zu fassen, bis er sich nach circa einer dreiviertel Stunde im Sammelgerichtssaal für niedere Bürgerklassen befand. Dieser Tempel der Justitia besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit einer recht heruntergekommenen Turnhalle einer bedürftigen Schule. Einem hohen Podest gegenüber, das mit einem Lautsprechersystem und einer recht schlecht gefertigten Puppe im schwarzen Talar ausgestattet war, befand sich eine Art Pferch, in dem sich die Delinquenten drängelten. Obwohl, wir ihr vermutlich schon geschnallt habt, die Bevölkerung im besten Untertanengeist abgerichtet war, bewachten schwerbewaffnete Aktivisten des DSDS, kommandiert von einem Unterleutnant 5. Grades, das menschliche Vieh. Aus den Lautsprechern ertönte eine blecherne Stimme:
‚Bürger der dritten und vierten Ordnung, es spricht die für Sie nach der reformierten Zivilprozessordnung zuständige künstliche Intelligenz: AI-J.U.D.G.E-D.R.E.A.D-08-15.
Gemäß der Demokratisch Plutokratischen Grundordnung verlese ich nun die weisen Gerechtigkeitsregeln der Magna Mater:
• Bürgerinnen und Bürger der ersten Ordnung sollen in Ihren sphärischen Kreisen des öffentlichen Wohls nicht mit trivialen Gerichtsverfahren belästigt werden. Sie sind durch handverlesene Ersatzmänner aus der übrigen Bürgerschaft zu ersetzen. Eine potentielle Bestrafung wird an den ausgewählten Freiwilligen vollzogen.
• Bürgerinnen der Kategorien zwei bis vier und Bürger der zweiten Ordnung haben das Recht auf Verteidigung. Sie sollen einem humanoiden Gericht - bestehend aus Richter und Staatsanwalt - vorgeführt werden.
• Bürger der dritten und vierten Ordnung werden aus Gründen geschlechtlicher Gleichberechtigung von eigens für sie konzipierten künstlichen Intelligenzen abgeurteilt.
Im Namen des Volkes ergeht für die anwesenden Bürger dritten und vierten Grades folgendes Urteil: Aufgrund der Meldung Ihres Arbeitgebers, dass die von Ihnen besetzten Arbeitsplätze nicht mehr benötigt werden, verlieren Sie gemäß §218, Absatz 567 des ‚Gesetzes zur Sozialverträglichkeit des Arbeits- und Kündigungsschutzes‘ Ihre bisherigen Bürgerrechte sowie sämtliche bewegliche und unbeweglich Vermögenswerte.
Im Namen des Volkes ergeht für anwesende Bürger der dritten Ordnung folgendes Urteil:
Gemäß §294, Absatz 567 des ‚Gesetztes zur Festigung der sozialen Gerechtigkeit‘ erhalten Sie den Status eines ‚einfachen Bürgers‘ mit Hartz VII-Lizenz
Hello Folks,
zu eurem Vergnügen -hoffe ich!- eine kleine Leseprobe.
Cheerio
JU