Weihnachtsfest mit Satansbraten/ Ein Weihnachtskrimi - Page 2

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von Annelie Kelch

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wissbegieriger ABC-Schütze vor dem ersten Schultag, und er fieberte seinem neuen Leben in „Down under“ – so nannten die Bewohner Australiens ihren Erdteil wegen dessen verwaister Lage auf der Südhalbkugel ‑, wie ein Liebeskranker entgegen.
Er dachte ungern an das vergangene Jahr zurück, das betulich wie eine alte Dampfwalze dahergekommen war, und er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Tage und Nächte ähnlich zäh das Feld geräumt hatten, wie sich für gewöhnlich eine Autokolonne nach einem Stau auf der Piste auflöst.
Früher war ihm Weihnachten das schönste Fest im Jahr gewesen, nicht nur während seiner Kindheit, sondern auch noch viel, viel später, nachdem er Larissa geehelicht hatte. Er erinnerte sich oft und gern daran, wie leidenschaftlich er dem würzigen Duft ihrer Zimtplätzchen verfallen war, der ihm allabendlich, kaum dass er die Haustür aufgeschlossen hatte, bereits in der Eingangsdiele um die Nase strich. Damals flog ihm Larissa noch jedes Mal, wenn er von der Arbeit heimkam, aus der Küche entgegen: ein kleiner Engel, mit roten, heißen Wangen und aufgelöstem Haar und umarmte ihn stürmisch mit vom frischen Mürbeteig verkleisterten Fingern, die klebrige Mehltupfer auf seinen edlen Anzügen hinterließen.
Während der beschaulichen Adventszeit hatte sie fast jeden Tag mehr als zwei Dutzend von diesen knusprigen Keksen gebacken, von denen sie mehr als die Hälfte an die Kinder in der Nachbarschaft verteilte. Den Rest ließen sie sich am Abend, meistens vor dem Fernseher, selber schmecken. An manchen Tagen fand er mittags in seiner Brotdose zimtbraune Sterne, Tannenbäume und lustige Weihnachtsmänner, die er mit seinen Angestellten teilte. Seit Tommy das Licht dieser Welt erblickt hatte, und zu jenem Zeitpunkt kam ihm die Welt noch unbeschreiblich schön vor, gestaltete Larissa die Weihnachtsfeiertage liebevoller und festlicher als jemals zuvor; jedenfalls war ihm das damals, als er noch „mit von der Partie war“, so vorgekommen.
Sobald er in seinem Autohaus endlich den letzten Kunden zufrieden gestellt hatte und erschöpft und mutterseelenallein beim Abendessen saß, dachte er voller Sehnsucht an jene harmonische Zeit zurück.
Damals, vor exakt einem Jahr, am zweiten Heiligen Abend nach seiner Scheidung von Larissa, als ihm der brillante Plan gekommen war, den für Tommy bestimmten albernen Weihnachtsmann außer Gefecht zu setzen, um sein spektakuläres Projekt „Unternehmen Tommy“ zu realisieren, das justament kurz vor seiner Ausführung stand, hatte er sich gegen zweiundzwanzig Uhr den sechsten Whiskey eingeschenkt, der, wenn er ihn auch keineswegs in Festtagslaune versetzen konnte, so doch immerhin seine eiskalten Glieder wärmte und die krassen Gedanken dämpfte, die damals noch in seinem Hirn herumspukten – denn er hatte ursprünglich beschlossen, dass für Larissa nicht allein die Stunde der Wahrheit, sondern obendrein ihr letztes Stündlein schlagen sollte; jedoch im Laufe des Jahres, genauer gesagt, im letzten Frühjahr, als ihm das Leben wieder einigermaßen schmeckte, hatte er seine Meinung kurzerhand geändert, dem Gedanken folgend, dass es Tommy nicht das Geringste nütze, wenn er, sein Papa, für den Rest seines Lebens im Gefängnis sitzen müsse – ganz im Gegenteil.
Und wie alle Jahre wieder wurde auch an jenem ihm immer noch sauer aufstoßenden Abend die Geburt des Jesuskindleins gefeiert; ja, es handelte sich tatsächlich bereits um den zweiten Heiligen Abend nach seiner Scheidung von Larissa, auf den er ebenso gut hätte verzichten können wie auf das vorangegangene öde Weihnachtsfest, öde nicht zuletzt deshalb, weil er sich dazu verdammt hatte, es in alleiniger Gesellschaft einer guten Flasche Whiskey und mit unermesslicher Wut im Bauch in seinem Appartement zu verbringen. Die zweiundzwanzig Schläge der altertümlichen Standuhr, die er in einem Antikmarkt erworben und zu Fuß nach Hause geschleppt hatte, weil sich sein schnittiger Sportwagen für das ehrwürdige Teil als zu klein erwies, hatten sich durch den nebulösen Dunst der Alkoholfahne, die ihn vor allen Widrigkeiten dieser Welt beschützen sollte, den Weg zu seinem Gehörgang gebahnt, den Felsbrocken aus dumpfen Gedanken aufgebrochen und deren Materieteilchen in sämtliche Zimmerecken katapultiert; ihr gedämpfter, sonorer Klang war ihm mittlerweile lieb und vertraut ‑ wie das Miauen und Schnurren von Hauskatzen, an das sich alte Ladys so sehr gewöhnen, dass sie es nicht mehr missen möchten, hatte er damals oft gedacht.
Seit er von Larissa geschieden war, hegte er nur mehr Verachtung für den genzenlosen Weihnachtstrubel. Wie sehr ihn dieser zur Schau getragene Materialismus anwiderte ‑ im gleichen Maße wie die Leute, die das ganze Jahr über keinen Gottesdienst besucht hatten, aber am Heiligen Abend zuhauf, mit Kind und Kegel, die unschuldigen Bänke der Kirche besetzten, um den Herrn für Blech, Flitter und Elektronik zu danken. Am liebsten hätte er sich nach dem Schlusschoral vor das Portal der Kirche gestellt und ihnen zugerufen: „Geht`s noch bigotter, Leute?“ - Aber was hätte ihm das gebracht? Schließlich musste er, wenigstens noch das nächste Jahr über, an seine Kundschaft denken, die den lieben Gott für das neue Vehikel lobpreisten, das er ihnen aufgeschwatzt hatte, damit sie die Umwelt noch ärger verpesten konnten, und zum Weltverbesserer hatte er sich noch niemals berufen gefühlt. Es verging kaum ein Tag, an dem er seinen Beruf, den er früher geliebt hatte, nicht verabscheute.
Nachdem er vom frühen Nachmittag bis in den Abend hinein in dem eiskalten Gartenhäuschen von Hänschen Klöver, seinem ehemaligen guten Nachbarn, zugebracht hatte, der fast von einem Tag auf den nächsten ein alter, gebrechlicher Mann geworden war und wintertags seinen warmen Bungalow bestenfalls zum Einkaufen verließ ‑ um seinen Garten und die kleine Laube kümmerte er sich schon längst nicht mehr ‑, hatte er noch stundenlang am ganzen Leib gezittert – weniger vor Kälte als vor Frust.
Durch das winzige Fenster des baufälligen Pavillons konnte er in sein ehemaliges Wohnzimmer blicken; Larissa hatte die Gardinen meistens aufgezogen. Er wurde nicht müde, sie und seinen Sohn Tommy zu beobachten, der damals knapp vier Lenze zählte.
Ein wie auch immer gearteter Kontakt zu Larissa, die ihm das Umgangsrecht für sein einziges Kind entziehen ließ, bestand schon seit Ewigkeiten nicht mehr, weil er sich damals, kurz nach der Scheidung, jeden Abend einen schauderhaften Rausch angetrunken hatte, um die furchtbare Leere, die sich in sein Leben geschlichen hatte, zu betäuben; aber selbst in jener schlimmen Zeit, als sein Hirn fast ständig benebelt war, war er oftmals zu

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