Antisemitismus in der DDR

Bild zeigt Uwe Röder
von Uwe Röder

Es ist ein stiller Weg,
den unser Frühjahr
kreuzt.

Er führt im Land bei Weimar
unsre Augen froh bis
an den Horizont,

und Menschen grüßen
freundlich uns
zurück.

Ein weißes Schild:
"April 1945, Todesmarsch
der Häftlinge von Buchenwald."

Der stille Weg
schreit plötzlich laut,
er zeigt uns Bilder seiner Hölle.

Knochendürre Menschen
schleppen sich auf ihm,
vom Tal bis an den Horizont.

Wer nicht mehr gehen kann,
wird auf dem Weg
erschossen.

Schwer fällt uns,
zu schauen auf
den Horizont,

wo in der Ferne
alle Toten
schwinden.

Aber niemals
mehr in
mir.

Alle Studenten der beiden Ingenieurschulen Zwickaus wurden in das Auditorium Maximum am Zwickauer Ring gerufen, um ihre Unterschriften unter eine Resolution gegen Israel zu setzen und für "Das Ägyptische Volk" zu spenden. Auf der Kanzel stand der Rektor der Schule, Genosse Gotthilfnie Gernegroß (Name geändert), ein Hohlkörper aus roter Pappe und ausgestopft mit roter Holzkopfwolle (Kopfinhalt nicht verändert), Typ "Rektaler Gesinnungsreiniger", einer der "Das Leben der Anderen" nichtet, durch die Gänge der Schule stolzt, als trage er 20 Potenzpillen in der Hosentasche, als Dauerleihgabe von der Stalin-Apotheke, und ich gebe hiermit zu, damit untertrieben zu haben. Doch die Bemerkungen sind erforderlich für das Verstehen des kommenden Geschehens, denn dieser Rektor steht vor uns und schaut von hoher Kanzel auf uns herab, wie auf ein Eigentum aus Studenten und Dozenten. Wir wurden geboren, ihm, dem Vertreter der Staatsdoktrin zu gehorchen. Sofort tritt Ruhe ein, und er hebt an, brüllend zu deklamieren:
"Der vom US-Imperialismus unterstützte Aggressor Israel, dieser feige Aggressor, hat das friedliche ägyptische Volk überfallen! Mit unserer Unterschrift zeigen wir unsere Solidarität mit den ägyptischen Werktätigen! Wir verurteilen auf das Schärfste, ja, auf das Schärfste verurteilen wir den imperialistischen, verbrecherischen, Kriegstreiber Israel! Unser Kampf gilt den…" usw. usw.
Sehr beeindruckend, obwohl er nicht einmal geflucht hatte, und die so benannten Vorfälle des Sechstagekrieges vom 5. Juni 1967 sich anders erwiesen, als sie der Rektor heraus schrie, nämlich, wie es in Geschichtsbüchern der ganzen Welt nachzulesen ist, außer vielleicht ägyptischen. Der Überfall kam, wie schon wiederholt, von der Gegenseite.
In einer seiner Atempausen hob ich die Hand und stand auf. Er erwartete als Wortmeldung nichts anderes als Zustimmung und machte den Fehler, auf mich zu zeigen, mir das Wort erteilend. Nach meinen ersten Worten entstand eine Stille im Saal, als wäre er leer, aber in einer Weise, als hätte sich noch nie eine Menschenseele darin befunden:
“Gestern habe ich im Fernsehen die Rede des ägyptischen Staatschefs Nasser gehört, er schrie unter den Beifallsstürmen seiner Leute, die Israeliten ins Meer zu treiben und dieses Volk zu ersäufen, es ohne Überrest zu vernichten. Das ist nichts anderes, als alle Juden auszurotten, nichts anderes, als Hitler es vorhatte. Ich werde niemals meine Unterschrift unter so etwas setzen!"
Meine Worte waren bis in die Ecken des Saales zu hören gewesen, was würde geschehen. Kein Laut, keine Bewegung. Sogar die Studenten meiner Seminargruppe zogen wie in Zeitlupe vorsichtig die Köpfe ein und bohrten ihre staunenden Blicke in ihre Schuhe, als müssten sie wegen meiner schmutzigen Worte fleckig geworden sein. Verschreckte Körpersprache, anzuzeigen, meine ideologische Entgleisung unter keinen Umständen zu teilen. Das ist die Generation, deren Vorfahren KZs gebaut hatten, insbesondere für die Ausrottung der Juden. Wollten sie ihre Unterschrift unter etwas setzen, was vormals dem verbrecherischen Teil unserer Vorfahren nicht gelungen war? Die Zeit, ein Zeichen dagegen zu setzen, verstrich in lähmender Stille, selbst der große Cäsar auf dem Podium war entgeistert. Eine Zeitlang stand er bewegungslos. Es schien, als warte oder lausche er auf etwas, um nach einer Pause mit dem Ablesen seines Textes fortzufahren, ohne im geringsten auf mich einzugehen. Zwar spürte ich die Gefahr, aber heiße Empörung hatte im Hirn die Chefkochstelle übernommen und vergessen, vom Herd zu nehmen, was überkochte. Zorn befreit von Angst, wieder meldete ich mich, doch dieses Mal übersah er es. Als er in einer Atempause sein Blatt wendete, sprang ich auf und rief überlaut in den Saal hinein, rhetorisch mangelhaft, jedoch inhaltlich für mein Leben lang akzeptabel:
"Sie haben mir keine Antwort gegeben, ich möchte eine Antwort. Juden ausrotten, das ist wie Hitler damals! Das ist wie Hitler!"
Abhängig sein von anderen Menschen birgt Gefahr - die Studenten unterschrieben. Nur, weil die Juden sich endlich selber halfen, konnten sie in ihrem zugeteilten Land verbleiben und wurden nicht vernichtet.

Jahre später erfuhr ich nach der Wende aus meinen mehrteiligen Stasi-Akten, Aufschrift "König Drosselbart", mit welchem Aufwand und welcher Akribie mich die Staatssicherheit über Jahrzehnte überwachte. Zu finden waren Fotokopien meiner Briefe, Abhörberichte von Telefongesprächen, mir wurde mehrfach mit dem Auto nachgefahren, Angestellte des MfS gingen per Fuß hinter mir her, befragten die Leute. Allein in meinem späteren Betrieb bespitzelten mich über Jahrzehnte sechs IM (Informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit), die ohne Wissen voneinander nach halbjährlichen Plänen eines Offiziers des MfS operierten.
Meine Kinder durften nicht zur Oberschule, wir erhielten keine Wohnung und saßen bei den Eltern fest.
Unabhängig des orthographischen Faltenwurfes, der sich über die Berichte der Staatssicherheit hinzog, war in Plänen festgelegt, was mir nachgewiesen werden sollte, Scheußlichkeiten, die eine Diktatur ersinnt, um sie über einem Menschen auszukippen, ihn auf Lebenszeit stinkend zu machen und als Feind zu markieren. Ähnlich zur Pechmarie aus dem Märchen Frau Holle, "Für alle Zeiten klebte das schwarze Pech an ihr fest".
(Kurzausschnitt aus meinem Buch "Ein Sehn und weitere Lebewesen")

Das Böse in mir schreit:
"Ich mag es nicht mehr
hören, nicht mehr sehen,
immer dieses ´Das´
von Auschwitz,
immer nur die eigne,
Deutsche Schuld.

Andre Völker
schweigen über eigne,
mörderische Frevel.
Frag die Türken,
was sie den
Armeniern angetan.
Frag' noch andre Völker!"

Das Gute in mir lässt
ein totes Opfer flüstern:
"Stell´ dir meine Qual und
meinen letzten Atemzug
jetzt vor - und soll ich
dabei ahnen, keiner will
es jemals wissen?"

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