Sajida

Bild von Teacherman
Bibliothek

Ich höre schon den Vorwurf: Das ist ein billiger Trick!
Aber stell dir einmal vor, deine Stadt und dein Land sind von amerikanischen Soldaten besetzt. Sie haben die Regierung gestürzt, das Land verwüstet und die Macht übernommen. Sie patrouillieren auch in deinem Viertel und wenn sie kommen, dann mit schwerem Geschütz. In Humvees mit aufmontierten Maschinengewehren fahren sie an deinem Haus vorbei, unter den schweren Schutzwesten und den großen Helmen vermutest du harte, unnachgiebige Männer. In der Nacht, wenn du schlafen möchtest, hörst du häufig das Geräusch der Drohnen. Sie sind mit Raketen bestückt, von denen eine schon das Haus am Ende der Straße in Schutt und Asche gelegt hat. Du kannst dich noch genau erinnern: an das Zischen, es dauerte zwei Sekunden, und an die Wucht der Explosion, die dich zu Boden warf. An die Stille kurz danach und an das Geschrei und Wehklagen, das dann folgte.

*

Sajida wachte an jenem Tag in dem Bewusstsein auf, dass es ihr letzter sein würde. Im Morgengrauen erhob sie sich von der einfachen Matratze in der angemieteten, leeren Zwei-Zimmer Wohnung und verbrachte die Morgenstunden mit Beten. Anschließend bereitete sie einen Tee in der vergammelten Pantry-Küche zu und setzte sich auf den einzigen Stuhl in dem schmucklosen Raum. Eine Weile saß sie nur so da, dann stand sie wieder auf. Sie wurde unruhig. Sie trank in kurzen Zügen vom heißen Tee und schaute dabei aus dem Fenster, auf die belebte Straße außerhalb des Zentrums von Amman. Als ein Mann auf der Straße unwillkürlich zu ihr hochsah, zuckte sie zurück und machte hastig einen Schritt zur Seite. Sie ging wieder zurück zum Stuhl und setzte sich erneut. Die Zeit verging einfach nicht. Sie dachte an ihre beiden Brüder, die AQI Offiziere gewesen und von amerikanischen Soldaten in der Nähe von Falludscha getötet worden waren. Auch ein Schwager war von amerikanischen Soldaten erschossen worden. Sie dachte an sie, aber sie fühlte dabei nichts mehr. Sie dachte an die Aufgabe, die sie nun hatte. Sie würde den Tod dieser Männer rächen, so wie es das Stammesgesetz vorsah.
Als sie im Begriff war, sich erneut vom Stuhl zu erheben, hörte sie, wie der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür umgedreht wurde. Es war Ali, ihr ‚Ehemann’.

*

Das Foto von Sajida, aufgenommen vom jordanischen Muchabarat, zeigt eine in meinen Augen alte Frau. Wenn ich nicht wüsste, dass sie zum Zeitpunkt der Aufnahme fünfunddreißig Jahre alt war, würde ich sie wohl auf fünfzig Jahre oder älter schätzen. Sie wirkt ein wenig dümmlich, hässlich gar, mit dem weißen Kopftuch sieht sie aus wie ein verkleideter Mann. Für den jordanischen Geheimdienst hat sie nochmal die Weste mit dem Sprengstoff anlegen müssen, zur Beweisaufnahme.
Der erste Blick auf dieses Foto erfüllt mich mit Gleichgültigkeit. Ob sie noch lebt oder gestorben ist, mir ist es einerlei. Unter ihrem Kopftuch und über der Weste erkenne ich nur grob die Physiognomie ihres Gesichtes, Charaktereigenschaften lassen sich dort nicht ausmachen oder ableiten. Sie ist lediglich ein Symbol des Terrors. Ich nehme sie nicht einmal als Mensch war.
Beim zweiten Blick meine ich, die Abwesenheit von Bildung und Erziehung in ihren Augen zu erkennen. Die Unfähigkeit, das eigene Tun zu reflektieren, zu hinterfragen und eigenständig zu Schlussfolgerungen zu gelangen. Ich meine eine Frau zu sehen, deren Weltbild aus einer Handvoll Behauptungen bestand, die man ihr solange als Wahrheiten verkaufte, dass sie diese auch als solche verstand: Allah ist groß, es gibt keinen Gott außer Gott und die Sunna ist sein Buch.

*

Ali, ihr ‚Ehemann’, hatte die Westen dabei. Er holte sie beide vorsichtig aus der mitgeführten Tasche und legte sie behutsam auf der einfachen Matratze ab. Er bedeutete Sajida mit einer Geste, ihre Weste hochzunehmen und einmal anzuziehen. Sie tat es. Überrascht von dem Gewicht, ertastete sie die Taschen mit der Elektronik und die mit Stahl versehenen Ausbuchtungen im Innenfutter. Es war nicht nur Neugier, sondern auch eine Notwendigkeit, dass sie sich mit der Weste vertraut machte. Sie zog die Schnallen an, um die Weste noch enger am Körper tragen zu können, sie schaute sich genau den Zünder an, den sie würde drücken müssen und sie schwang ihre Abaya um die Weste, um zu sehen, wie unauffällig sie sich damit fortbewegen konnte. Sie war beeindruckt von der passgenauen Schnittform dieses tödlichen Instruments.
Ali zeigte ihr genau, wie sie den Mechanismus auslösen musste. Er fasste sie dabei nicht an, sondern erklärte ihr alles anhand seiner eigenen Weste. Sajida hörte aufmerksam zu und sah Ali dabei nur aus den Augenwinkeln an.

Zarquawi hatte darauf bestanden, dass die beiden heirateten. Er hatte in aller Eile einen Geistlichen herbeigerufen und eine zweifelhafte Zeremonie veranlasst, die seinen strengen, religiösen Idealen Rechnung trug. Immerhin erleichterte diese Heirat ihnen auch, sich besser in die Rollen hineinzufinden, die sie mitsamt ihrer gefälschten Ausweise spielen sollten, gesetzt den Fall, sie würden an der Grenze zu Jordanien kontrolliert werden: Ein Ehepaar, das sich in Amman wegen Unfruchtbarkeit der Frau behandeln lassen wollte.

*

Von außen betrachtet bin ich wohl das, was man despektierlich einen Gutmenschen nennt. Ich verhelfe Schülern mit Migrationshintergrund zu einem Bildungsabschluss, ich habe einen Spendenaufruf für Flüchtlinge initiiert und ihnen, wenn auch nur für kurze Zeit, Deutschunterricht erteilt. Ich habe über PLAN ein Patenkind im Senegal und ich spende Geld für die Welthungerhilfe.
Ich selbst aber erkenne an mir die gleichen Ressentiments gegenüber Ausländern und Flüchtlingen, wie wahrscheinlich viele andere auch. Wenn ich in der U-Bahn neben einem Ausländer sitze, der für meine Begriffe streng riecht, oder das asoziale Verhalten zweier Jugendlicher vermutlich nordafrikanischer Herkunft erlebe, wenn ich einen Handwerker anrufe, der laut myhammer.de Alexander Schmidt heißt, und dann seinen russischen Akzent höre, dann werden meine Toleranz, meine ach so grenzenlose Nächstenliebe und mein Idealismus mit der Realität konfrontiert und halten ihr nicht immer stand.
Aber ähnlich wie ein Gesetz gelegentlich etwas vorschreibt, das gesellschaftlich nicht akzeptiert oder umgesetzt ist, so schreibe ich mir tagtäglich vor, die Dinge differenziert zu sehen, und scheitere nicht selten an dieser selbstgemachten Vorschrift. Nach Köln war ich auch gegen nordafrikanische Jugendliche, nach Paris und Brüssel auch antiislamisch und nach/seit Erdogan ebenfalls antitürkisch. Zumindest eine Zeit lang.

*

Ali fixierte Sajidas Weste mit Panzer-Tape und half ihr dann wieder in die Abaya. Seine eigene Weste fixierte er selbst. Gegen 8:30 Uhr verließen sie beide die Wohnung, auf der Straße vor dem Haus stiegen sie in einen Mietwagen und fuhren zum Radisson Hotel, wo sie gegen 9:00 Uhr ankamen.
Die Festbeleuchtung, der Klang freudig erregter Stimmen, die folkloristische Musik und der Anblick jemenitischer Familien mit Jugendlichen, Kindern und Kleinstkindern irritierten Sajida. Sie war in Erwartung englischsprachiger Geheimagenten und westlicher Militärs zum Hotel gefahren und nun traf sie auf eine weitaus harmlosere Szenerie: Eine Hochzeitsgesellschaft.
Ali und Sajida liefen bedächtig die Stufen zur Empfangshalle des Hotels hinauf und fühlten sich im bunten Treiben der kommenden und gehenden Gäste relativ unbeobachtet. Ihre steife Art zu gehen und ihre nervösen Blicke fielen zunächst niemandem auf. Als sie die Empfangshalle betraten, dauerte es nicht lang und ein junger Mann in Hoteluniform kam auf sie zu.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er auf Arabisch, in einem recht devoten Tonfall.
Sajida, unfähig zu sprechen, schaute nur auf Ali, der nach kurzem Zögern den Mund aufmachte.
„... mal eine echte jordanische Hochzeit sehen“, murmelte er mehr, als dass er es artikulierte. Er nahm Sajida beim Arm und drückte sie ein wenig in die Richtung des Festsaals, in dem sich die Festgemeinde befand. Der Hotelangestellte glaubte offenbar, dass sie nichts weiter als neugierige Touristen seien und ließ sie gewähren. Er lief zurück zur Rezeption.

Sajida und Ali passierten ungehindert den Eingang zum ‚Philadelphia Ballroom’. Noch am Eingang trennten sie sich voneinander und liefen in Richtung der sich jeweils gegenüberliegenden Seiten des Saals. Sajida lief auf die Gruppe Frauen und junger Mädchen zu, Ali steuerte geradewegs auf die Männer zu.
Als Sajida glaubte, einen strategisch günstigen Punkt gefunden zu haben und die Weste zur Detonation bringen wollte, glitt sie mit ihrer rechten Hand unter die Abaya, ertastete den Zünder und begann, an ihm herum zu fummeln. Dann drückte sie den Auslöser.
Doch nichts passierte.
Sie stutzte, dann signalisierte sie ihrem ‚Ehemann’ mit nervösen Augen, dass es ein Problem gab. Ali warf ihre einen wütenden Blick zu und bedeutete ihr mit einem kurzen Handzeichen, zum Eingang des Festsaals zurück zu gehen.
Sajida tat wie ihr geheißen. Als sie fast am Eingang des Festsaals angekommen war, drehte sie sich nochmal zu Ali um. Sie sah gerade noch, wie er einen Tisch erklomm. Dann folgte die ohrenbetäubende Explosion.

*

Die völkische Idee ist mir genauso fremd wie die Scharia. In meinem Leben treffe ich nette und weniger nette Ausländer, genauso wie ich nette und weniger nette Deutsche treffe. An einem Tag denke ich auch, dass wir nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen können, am nächsten denke ich, dass unser Wohlstand auf der Armut und Ausbeutung der ärmsten Menschen dieser Welt fußt und dass wir es verdienen, mit Flüchtlingen ‚gestraft’ zu werden. An einem Tag bin ich mir keiner Schuld bewusst und empfinde Gleichgültigkeit gegenüber den ertrunkenen Flüchtlingen im Mittelmeer, am nächsten Tag will ich einen bei mir zuhause aufnehmen, und bin dann froh, wenn meine Familie es mir ausredet. Also spende ich Geld und beruhige mein schlechtes Gewissen mit kontaktloser Hilfsbereitschaft.
Im Spannungsfeld dieser widersprüchlichen Gedanken kann ich sogar mit dem Programm der AfD sympathisieren und mich erst mit einer Überdosis Höcke auf Youtube von dieser Geschmacksverirrung befreien. Letztendlich ist da eine große Verunsicherung.

In guten Momenten, so glaube ich, ergreift jedoch eine leise Stimme in mir das Wort. Sie sagt: In einer politischen Krise müssen alle Gedanken und Überlegungen auf den Tisch, in einer Demokratie muss auch dem Anti-Demokraten mit Vernunft und Argumenten begegnet werden, nicht mit Verweigerung oder blankem Hass. Aber in einem humanitären Kontext müssen wir sagen: Die Flüchtlinge sind da! Und die Menschlichkeit, oder das Bestreben danach, gebietet uns zu helfen. Und so ist dies tief in meinem Innern der erste Impuls, den ich fühle, wenn ich einen Menschen in Not sehe: Ich will helfen. Aber, auch das muss ich zugeben, gelegentlich vermag ich, diesen Impuls erfolgreich zu unterdrücken.

*

„Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Da bin ich weggerannt“, sagte Sajida später im Verhör.
„Sie haben mir gesagt, ich würde Amerikaner töten“, behauptete sie weiter. „Ich wollte nur den Tod meiner Brüder rächen.“
Bis zuletzt glaubte sie daran, dass die Operation ein Missverständnis war, dass Zarquawi selbst einem Irrtum aufgesessen war. Niemals, so ihre Überzeugung, hätte er sie losgeschickt um unschuldige Frauen und Kinder auf einer Hochzeit zu töten.
„Ich wollte nicht sterben“, sagte sie zuletzt.

Der jordanische Muchabarat verlor sehr bald das Interesse an ihr. Sie hatte nie die Führungskräfte in Zarquawis Organisation getroffen, sie kannte keine der konspirativen Wohnungen und war auch über die Schmuggelrouten nicht informiert. Sie war dumm, wertlos, und für Zarquawis Männer perfekt gewesen: eine todtraurige Frau, die den Tod ihrer Liebsten rächen wollte.

Am 4. Februar 2015 wurde Sajida Al-Rishawi gehängt.

*

Sajida al-Rishawi wurde nur 45 Jahre alt. Man kann sie als Täter und als Opfer sehen. Wenn man die Kommentare unter dem Youtube Video, das von ihrer Exekution berichtet, liest, dann gewinnt man den Eindruck, dass die Mehrheit sie undifferenziert als Täterin, als das personifizierte Böse ansieht. Man wünscht ihr, in den Kommentarspalten, auf dem Times Square geköpft zu werden, man überlegt, ihr Dynamit zu implantieren und sie dann als Tausch für Häftlinge des IS zu benutzen und man überlegt, sie von Pferden vierteilen zu lassen.

In Anbetracht all dieser biblisch anmutenden Vergeltungsphantasien wird mir eines klar: Ambivalenz wird als Schwäche ausgelegt. Wir leben in einer Zeit, in der sich zwei völlig verhärtete Fronten gegenüberstehen, doch zwischen den beiden Parteien befindet sich ein Niemandsland unglaublichen Ausmaßes. Dieses Niemandsland verhindert jeglichen Kontakt oder Dialog, und jeder, der es betritt, wird sofort als Überläufer tituliert und von den eigenen Leuten als Verräter erschossen. Ambivalenz ist schlimmer als eine klare Positionierung.

Ich aber tappe im Dunkeln durch dieses Niemandsland, mal näher an der einen, mal näher an der anderen Seite, aber ich fühle mich keiner zugehörig, trage keine Uniform, habe kein Gewehr dabei. Ich könnte die weiße Fahne hissen, aber man würde es für einen Trick halten.

Und mich von beiden Seiten erschießen.

* mit sinngemäßen Übernahmen aus Joby Warrick’s ‚Black Flags – The Rise of Isis’ (Bantam Press: 2015)

Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: