Auf den dürren Spitzen sah es Krähen sitzen. Das war kein einladender Platz, um sich gemütlich niederzulassen und zu glänzen. Es tanzte tiefer unter die Kiefer. Auch da waren kaum grüne Nadeln zu finden. Das Weißröckchen wirbelte weiter. In den Vorgärten der Häuser am Stadtrand, und wenn sie noch so klein waren, leuchteten Landungsfeuer im grünen Rasen. Dorthin fühlt es sich gezogen. Aber es waren keine Begrüßungschöre zu hören. Kein Kindermund tat den Wunsch kund: „Schneeflöckchen, kommst du geschneit?“
Je näher das Weißröckchen auf die Vorgärten rieselte, desto deutlicher bemerkte es die veränderte Stimmung. Die Türen waren verschlossen statt weit geöffnet zu sein. Auf den Willkommensschildern stand nicht: „Komm herein, Weißröcklein.“ Es war zu lesen: „Corona! Quarantäne. Abstand halten.“ Aus den Fenstern starrten Augen über die Mund-Nasen-Masken in den nebligen Abend. Ihre Sehnsucht war glühend.
Sobald es die Häuser erreicht hatte, waren flammende Bäume und Sträucher, leuchtende LED-Elche und -Rentiere zu erkennen. Wärme stieg zu ihm auf, die hätte aus dem Backofen dampfen können. Aber nach Plätzchen roch es nicht und nicht nach Kuchen. Ihm wurde heiß. In der Luft hatte es ein Covid-Virus auf das Weißröckchen abgesehen. Aber die Schneeflocke war nicht zu infizieren. Es gab ein nahezu lautloses Zischen. Das tänzelnde Schneeflöckchen verschwand im Nu. Es löste sich auf im Unsichtbaren.
Das Weißröckchen schmilzt dahin
von Heiner Brückner
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Interne Verweise
- Autorin/Autor: Heiner Brückner
- Prosa von Heiner Brückner
- Prosakategorie und Thema: Experimentelles / Sonderfälle, Weihnachten
Kommentare
Nur zu "VERSchwand" schlich sich ein "t" -
Tee fand Frau Krause nicht okay ...
LG Axel
VERStand und Verb bedanken sich für die Aufmerksamkeit.
LG Heiner