Sie nennen mich Tod

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von Anita Zöhrer

Warum war ich nur in die Stadt gezogen? Warum bin ich nicht am Land geblieben? In den Bergen? So wie ich es immer gewollt hatte ….

Am Tag umringt vom Lärm und von der Hektik der Stadt flüchtete ich mich in der Nacht in meine Träume. Dort war ich frei. Frei von der Last, etwas leisten zu müssen. Frei, um dort zu leben. Ich träumte von meiner einstigen Heimat am Land, einem Blockhaus mitten in den Wäldern und fühlte mich unendlich glücklich. Bis ich eines Nachts in einen Traum versank, der anders war als alle anderen Träume, die ich bisher gehabt hatte und mein Leben für immer verändern sollte …

Freitagnacht. Ich lag in meinem Bett und konnte nicht einschlafen. Grund dafür war ein Streit meiner Arbeitskollegen, der in meinem Kopf hallte. Ich hatte keine Ahnung, worum es dieses Mal wieder gegangen war, und wollte es auch gar nicht wissen. Nicht einmal meinem Chef war es gelungen, meine Kollegen zu besänftigen. Ich hörte die Autos, die an meiner Wohnung vorbeirasten. Hörte die Flugzeuge, die über unserer Stadt zur Landung ansetzten. Hörte die vielen Menschen auf der Straße. Doch die Stimme tief in mir, die hörte ich schon lange nicht mehr. Wie so oft hatte ich sie im Keim erstickt und konnte es auch nicht mehr rückgängig machen. Es war zu spät, ihre Warnungen hatte ich ignoriert. Und nun? Nun lag ich da, pausenlos unter Spannung. Noch mehr! Noch größer! Noch weiter! Wie hoch wollte der Mensch denn noch hinaus, ehe er merkte, dass er das Wesentliche aus dem Blick verloren hatte? Und ich? Ich war gefangen in dieser Misere und hatte selbst Schuld daran.

Wie so oft weinte ich mich auch in dieser Nacht in den Schlaf und kam erst wieder zur Ruhe, als ich im Traum in meine einstige Heimat zurückkehrte. Die Sonne schien und ich saß am offenen Fenster und erfreute mich am Ausblick auf die Felder. Zwar waren es keine Berge, die ich hier bewundern konnte, aber zumindest Äcker, auf denen das Getreide in voller Blüte stand. Konnte dem Gesang der Vögel lauschen und am blauen Himmel weiße Wolken vorbeiziehen sehen. Ich genoss den Frieden fernab der krankmachenden Betonlandschaft, die ich nun meine Heimat nannte, als plötzlich Dunkelheit über mich hereinfiel und sich die Wände meines Hauses langsam auf mich zu bewegten. Ich versuchte, aus dem Fenster zu springen, doch es war verschlossen. Mit einem Stück Holz, das auf dem Boden lag, schlug ich gegen das Glas, doch es gelang mir nicht, es zu durchbrechen. Ich schrie aus vollem Halse um Hilfe, rang nicht zum ersten Mal mit dieser furchtbaren Angst vor dem Tode. Dabei wäre gerade er der Ausweg aus so vielen Schattenseiten meines Lebens gewesen …

Immer weiter kamen die Wände auf mich zu. Ich weinte, geriet in Panik. Schlug mit meinen Fäusten so fest ich nur konnte gegen die Fensterscheibe, doch es hatte keinen Zweck. Ein langsames und grausames Ende war mir gewiss. Womit hatte ich das nur verdient?

Schon nahe waren mir die Wände, als mich meine Kräfte verließen und ich auf das Fensterbrett niedersank. Ich konnte nicht mehr. Konnte nur mehr darauf warten, dass es endlich vorüber war. Meine letzten Gedanken galten einer heilen Welt, einer Welt, die ich doch nie finden würde, als ein helles Licht in der Ferne meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Konturen eines Menschen nahmen in dem Licht Gestalt an. Konturen eines Mannes in einem schwarzen Gewand. All die Dinge, die wie schwere Ziegel auf meiner Seele lasteten, entschwanden aus mir und mit ihnen das Fensterglas und die Wände. Ein Stück von mir entfernt blieb der Mann stehen und lächelte mir zu. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und flehte ihn mit lauter Stimme an, bei mir zu bleiben.
Ohne auf meine Worte zu achten wandte der Mann sich wieder um und begab sich in ein leuchtendes Wehen aus Sternenstaub. Tiefe Traurigkeit überkam mich, mutterseelenallein blieb ich in der Dunkelheit zurück.

Hohe Felsen taten sich um mich herum auf, gewaltige Berge und Wälder entstanden. Im Mondschein glitzernde Schneekristalle schwebten leise auf die Erde hernieder und ich stapfte im Schnee einen Berg hinauf, suchte nach dem schwarz gekleideten Mann. Wer war er? Und woher war er gekommen? Wieder tauchte vor mir sein Gesicht auf. Es war mir fremd und doch so vertraut. Ob ich es wohl jemals wiedersehen würde?
Ich kletterte über eine Felswand auf die Spitze des Berges, die Aussicht rührte mich zu Tränen. Ein großer See, an dem Hirsche und Rehe tranken. Füchse spielten Fangen und eine Bärenmutter hielt ihr Kleines in ihren Pranken. Unberührte Natur, wie sie kaum noch zu finden war, wie leid es mir doch um diese Welt tat. Eine Welt, auf der nur Macht, Einfluss und Reichtum zählten.

Wie ich so dastand, näherte sich der Mond mir allmählich und weckte in mir wieder furchtbare Angst vor dem Tode. Panik, wie ich sie das letzte Mal verspürt hatte, als die Wände meines Blockhauses mich zu erdrücken gedroht hatten. Ich lief so schnell ich nur konnte den Berg hinunter und rutschte auf einer Eisplatte aus, stürzte meterweit in die Tiefe. Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wurden in mir wach und wieder sah ich sein Gesicht vor mir, das Gesicht des schwarz gekleideten Mannes. Ich war bereit, zu sterben. Vorausgesetzt, es ging schnell und schmerzlos, doch anstatt zu sterben, landete ich sanft auf einer weißen Wolke, die mich zu Boden trug und sich wie eine wärmende Decke um mich legte. Je näher der Mond mir kam, desto kleiner wurde er, schrumpfte von einem bedrohlichen Ungetüm zu einer kleinen Kugel, und immer zaghafter schwebte er an mich heran, so als ob es ihm leid täte, mich so erschreckt zu haben. Ich öffnete meine Arme, nahm seine Entschuldigung gerne an und drückte ihn ganz fest an mich.

Eine Sternschnuppe zog über uns ihre Bahn und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass sie mich mitnehmen und zu dem schwarz gekleideten Mann führen würde. Mit einem Male änderte die Sternschnuppe ihren Kurs und steuerte direkt auf mich zu. Noch fester umklammerte ich den Mond, war mir sicher, er würde mich beschützen, falls mir Gefahr drohte.

Wenige Meter vor mir schlug die Sternschnuppe nahezu lautlos in den Boden ein und zersplitterte in Tausende bunte, leuchtende Kristalle. Ein helles Licht erstrahlte und die Konturen eines Menschen gelangten zum Vorschein. Es war der schwarz gekleidete Mann! Mit einem Lächeln stand er vor mir und ich erhob mich.
„Wer bist du?“
„Sie nennen mich Tod.“

Um mich herum erklangen Sirenen, ein Sanitäter tat sein Bestes, mich nach meinem Herzinfarkt zu reanimieren.
„Nein, lassen Sie mich!“
Im Geiste wehrte ich mich, wollte nie wieder dorthin zurück, wo ich einst gewesen war. Einzig und allein bei meinem Freund wollte ich bleiben und frei sein, frei sein für immer.
„Lass mich nicht wieder allein! Bitte.“
Ich kämpfte und flehte meinen Freund um Hilfe an, doch ich hatte nicht die geringste Chance. Die Welt hatte mich wieder und keine Ahnung, was sie mir damit antat.

Die Tage vergingen und nicht einen Moment lang war mir die Nähe meines Freundes vergönnt. Nicht in einem meiner Träume erschien er mir und doch hatte ich seinen Anblick, sein Lächeln stets vor mir. Viele Verluste hatte ich in meinem Leben bisher ertragen, seinen jedoch ertrug ich nicht. Nur eine Traumgestalt wäre er gewesen, versuchten Therapeuten mir einzureden. Dass sie logen, lag auf der Hand. Sie waren doch nur neidisch. Neidisch, dass sie nicht so einen besonderen Freund hatten wie ich. Sie alle. Hartnäckig hielt ich an meiner Erinnerung fest. Und an meinem Wunsch, wieder zu ihm zurückzukehren. Und dieses Mal für immer.

Sonntagabend. Die Sonne senkte sich nieder und ich stand auf meinem Balkon und sehnte mich danach, ihr dabei zu zusehen. Für die Aussicht auf eine bessere Zukunft hatte ich mich entschieden, als ich hierher gezogen war. Nie hätte ich mir gedacht, dass meine Seele eines Tages so sehr darunter leiden würde.
Mit beiden Händen umfasste ich das Geländer des Balkons und holte tief Luft. Der Lärm der Stadt drang an meine Ohren und die Streitereien meiner Arbeitskollegen spukten in meinem Kopf herum, trieben mich beinahe in den Wahnsinn. Ein einziger Schritt. Ein einziger winziger Schritt und ich wäre endlich frei gewesen. Doch war ich zu feig, ihn zu wagen. Ich blickte nach unten und da entdeckte ich ihn: meinen Freund, den Tod. Er stand auf der Straße und streckte seine Hand nach mir aus, war gekommen, um mich zu sich zu holen. Voller Freude kletterte ich über das Geländer und sprang. Sprang in die mir mein Leben lang ersehnte Freiheit. Nun konnte mich niemand mehr aufhalten, nun mich niemand mehr von meinem Freund trennen.

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