Der Himmel war hell und licht. In den Straßenschluchten strich ein milder Wind um die Häuserecken, wie Balsam auf dem Beton. Der Verkehr erzeugte nur ein leises Meeresrauschen. Alles war wie in Watte gepackt.
Die schimmernde Korona der Wolkenkratzer, reflektiert und gebrochen an den unzähligen Glasfronten, erzeugte Farbspiele von blendendem Weiß und Kreationen aus Blautönen, gleich einem Blick in die Weiten eines Ozeans.
Wie jeden zweiten Sonntag im Sommer war ich mit meinem Vater auf dem Weg in den botanischen Garten. Ich liebte die Pflanzen und konnte mich nicht sattsehen an den sich ständig verändernden Farben und Formen. Hier war alles grün und bunt. Orchideen und Passionsblumen, gemischt mit aufstrebendem Bambus und Palmen, deren Blätter die Kuppel bedrängten. Unzählige Wassertropfen an den Scheiben zeugten von einem eigenen Klima.
Eine besondere Attraktion war das Schmetterlingshaus. Hier pulsierte das Leben von unzähligen Flattertierchen, untergebracht in einer eigenen Glaskuppel. Sie schwirrten wie Farbkleckse herum und testeten immer wieder ihr eigenes Himmelszelt. Das Schaben und Klopfen der kleinen Flügel und Körper am Firmament war der Herzschlag ihres Schwärmens.
Diese Schönheit in ihrer begrenzten Enge machte mich etwas traurig und ich schaute zu meinem Vater.
„Wenn ich groß bin, werde ich einen offenen und viel größeren Garten bauen!“
„Das ist ein guter Plan“, meinte er. „Wir werden es am Himmel sehen“.
Diesmal nahmen wir einen anderen Rückweg. Wir kreuzten einige Straßenzüge und kamen zur Main Street. Dort stand ein riesiges Hochhaus, das alle anderen Gebäude überragte.
Wir blieben vor dem Eingang stehen. Das Portal zu diesem Glaspalast bildete ein gigantisches Tor aus schwarzem Metall, verziert mit Hieroglyphen. Die nächste Häuserecke schimmerte am Horizont. Sie war wie eine Fata Morgana, so nah und ganz fern zugleich.
Ich blickte nach oben. Das Gebäude war eine gigantische Pyramide, die alles andere überragte. Die Spitze, umspielt von Schleiern aus Federwolken, verschwand in den Weiten des Himmels.
Irgendetwas war anders an diesem Haus. Es gab keine Klingel und keine Freisprechanlage. Gelegentlich kamen junge Menschen vorbei. Sie betrachteten die Innschriften, als wollten sie sie entziffern. Kaum dass sie davorstanden, öffnete sich die Tür automatisch. Ich beobachtete ein Zögern, als würden sie zweifeln, dann traten sie ein.
Das Gebäude zog mich magisch an. Wir gingen zum Portal, aber nichts passierte.
„Papa, wieso geht die Tür nicht auf? Ich möchte auch mal da rein!
„Das geht nicht, aber versuch es mal…“, sagte mein Vater.
Ich hob die Hand und begann zu klopfen. Anstatt eines hallenden Tons verschwand meine Hand geräuschlos im Nebel.
„Wieso kann ich nicht anklopfen und hineingehen?“, fragte ich.
„Es ist noch zu früh für dich“, sagte mein Vater.
„Das ist das Haus des Lebens. Es ist ein Zeitgebäude. Die Zeit kann man nicht anfassen. Man kann nur ihren Verlauf beobachten, wie bei einer Uhr. Du kannst dieses Haus erst betreten, wenn du anfängst deinen eigenen Weg zu gehen. Wenn du soweit bist, dann wird sich die Tür für dich öffnen“.
Das hörte sich verlockend an. Ich meinte bereits einen fernen Ruf aus der Zukunft zu hören.
Mit einem verträumten Blick fuhr er fort:
„Wenn du deine Reise begonnen hast, wirst du auf deinem Weg unendliche Möglichkeiten entdecken. Was du daraus machst, wird dein Leben bestimmen. Aber denke daran, die Zeit läuft nicht rückwärts. Wenn du das Portal durchschritten hast, kannst du nur noch nach vorne gehen…“.
Es war inzwischen etwas kühler geworden. Die Sonne ging langsam unter. Langgezogene Schattenfinger ergriffen Besitz von den Straßenschluchten. Es war Zeit nach Hause zu gehen. Ich fröstelte etwas, aber magisch….
Fortsetzung folgt...