Der Panther

Bild zeigt Rainer Maria Rilke
von Rainer Maria Rilke

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Veröffentlicht / Quelle: 
Neue Gedichte; Insel-Verlag 1907 - 1. Auflage

Gedichtinterpretation

Einleitung

Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“ ist eines der bekanntesten Werke der deutschen Lyrik und stammt aus seiner Sammlung „Neue Gedichte“ (1907). Das Gedicht beschreibt die Wahrnehmung eines Panthers, der in einem Käfig gefangen ist, und wird häufig als Metapher für den Verlust von Freiheit und Lebendigkeit interpretiert. In seiner komprimierten Sprache und dichten Bildlichkeit vereint Rilke poetische Ästhetik mit existenziellen Fragestellungen.

Inhaltliche Analyse

Das Gedicht beschreibt den Panther in einem zoologischen Käfig. Die ersten beiden Strophen zeigen die Gefangenschaft und den Verlust der Lebenskraft des Tieres. Es heißt: „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“ Die Wiederholung des Begriffs „tausend“ verdeutlicht die Enge und Ausweglosigkeit seiner Situation. Die „tausend Stäbe“ stehen symbolisch für die Begrenzungen, die nicht nur physisch, sondern auch psychisch auf das Tier wirken.

In der zweiten Strophe beschreibt Rilke die Bewegung des Panthers: „Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, / der sich im allerkleinsten Kreise dreht, / ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht.“ Hier wird die Dynamik der Gefangenschaft deutlich. Die Bewegungen des Tieres sind zwar kraftvoll, doch sie laufen ins Leere. Der „große Wille“ – ein Symbol für die ursprüngliche Wildheit und Lebensenergie des Panthers – ist „betäubt“, also durch die Gefangenschaft erstickt.

Die letzte Strophe schildert das innere Sterben des Panthers: „Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille / sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, / geht durch der Glieder angespannte Stille – / und hört im Herzen auf zu sein.“ Diese Zeilen verdeutlichen die schwindende Wahrnehmungsfähigkeit des Tieres. Es gibt Momente, in denen es etwas von der Welt außerhalb des Käfigs erfasst, doch diese Eindrücke bleiben ohne Wirkung, da sie sofort „im Herzen aufhören zu sein“. Die Welt, die der Panther erlebt, ist also nicht nur physisch, sondern auch emotional und geistig verschlossen.

Formale Analyse

Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils vier Versen, die in Kreuzreimen (abab) verfasst sind. Der Rhythmus ist fließend, aber nicht starr, was die Eleganz und zugleich die Monotonie der Bewegungen des Panthers widerspiegelt. Die Bildsprache ist klar und präzise, und die Syntax trägt zur Verdichtung der Eindrücke bei. Rilke verwendet häufig Alliterationen und Assonanzen, die den melodischen Charakter des Gedichts verstärken.

Das Gedicht arbeitet mit einer ausgeprägten Symbolik: Der Käfig steht für Begrenzung und Gefangenschaft, die Bewegungen des Panthers für eine vergebliche Suche nach Freiheit. Der „Vorhang der Pupille“ verweist auf die Abgrenzung zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Wahrnehmung und Verstehen.

Interpretation

„Der Panther“ kann auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden. Eine naheliegende Deutung ist, dass der Panther für die condition humaine, die menschliche Existenz, steht. Wie das Tier im Käfig ist der Mensch in gesellschaftliche und persönliche Zwänge eingebunden, die seine Freiheit und Lebendigkeit einschränken. Die Monotonie der Bewegungen spiegelt den Kreislauf des Alltags wider, in dem individuelle Energie und Willenskraft oft ins Leere laufen.

Eine andere Lesart sieht in dem Gedicht eine Kritik an der modernen Zivilisation, die durch ihre Regeln und Normen die Wildheit und Ursprünglichkeit des Lebens zerstört. Der Panther wird zum Symbol für den Verlust der Natur und der Instinkte, die durch die „Stäbe“ der Kultur unterdrückt werden.

Auch autobiografische Bezüge sind denkbar. Rilke selbst fühlte sich häufig von äußeren Umständen eingeengt und suchte in seiner Dichtung nach einem Ausweg aus diesen Begrenzungen. In diesem Sinne könnte der Panther eine Projektion seiner eigenen existenziellen Erfahrung sein.

Vergleich mit anderen Werken Rilkes

„Der Panther“ steht in engem Zusammenhang mit anderen Gedichten aus den „Neuen Gedichten“, wie etwa „Die Gazelle“ oder „Die Flamingos“, die ebenfalls Tiere als Träger metaphorischer Aussagen über das menschliche Dasein verwenden. In seiner späteren Sammlung, den „Duineser Elegien“, entwickelt Rilke diese Motive weiter und verbindet sie mit einer noch umfassenderen Reflexion über das Verhältnis von Leben, Tod und Kunst.

Schluss

„Der Panther“ ist ein Meisterwerk der modernen Lyrik, das durch seine dichte Bildsprache und tiefgründige Symbolik beeindruckt. Rilke gelingt es, in wenigen Zeilen eine universelle Aussage über Freiheit, Gefangenschaft und den Verlust der Lebenskraft zu treffen. Das Gedicht fordert den Leser dazu auf, sich mit der eigenen Existenz auseinanderzusetzen und die Begrenzungen des Lebens zu hinterfragen. Es ist ein zeitloses Werk, das in seiner sprachlichen und thematischen Klarheit auch heute noch berührt und inspiriert.

Gedichtform: 

Video:

Angélique Duvier rezitiert "Der Panther", am Klavier begleitet von Vladyslav Sendecki

Rezitation:

Rezitation: Rezitation: Angélique Duvier, Klavier und Komposition: Vladyslav Sendecki
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