GAZELLA DORCAS
Verzauberte: wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,
und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem der nicht mehr liest
sich auf die Augen legen, die er schließt,
um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schösse nur nicht ab, solang der Hals
das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht,
den Waldsee im gewendeten Gesicht.
Akademische Analyse von Rainer Maria Rilkes „Die Gazelle (Gazella dorcas)“
Rainer Maria Rilkes „Die Gazelle (Gazella dorcas)“ gehört zu den frühen Gedichten aus den „Neuen Gedichten“ (1907), in denen der Dichter sich intensiv mit der Darstellung von Tieren, Pflanzen, Objekten und Kunstwerken befasst. Hierbei gelingt es ihm, in stilistisch verdichteter, formstreng komponierter Weise ein Bild zu entwerfen, das gleichermaßen sinnlich-plastisch wie symbolisch aufgeladen ist. Wie in Der Panther oder auch in Das Einhorn, die ebenfalls im Kontext der „Neuen Gedichte“ stehen, versucht Rilke mit dichterischen Mitteln einen Grenzbereich zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen sinnlicher Erscheinung und seelisch-sprachlichem Erleben aufzufangen. „Die Gazelle“ steht damit in engem Zusammenhang mit Rilkes Bemühen, das Unaussprechliche, das Geheimnis der Geschöpflichkeit und die innere Erfahrung von Schönheit, Bewegung und Harmonie in sprachliche Gestalt zu bringen.
Form, Versmaß und Struktur
Das Gedicht ist ein Sonett, bestehend aus zwei Quartetten und zwei Terzetten, insgesamt also aus 14 Verszeilen. Diese strenge Grundform entspricht der in der Tradition der italienischen (petrarkistischen) Lyrik fest etablierten Form. Rilke bedient sich in den „Neuen Gedichten“ häufig solcher klassischen Formen, um seine bildhaften und sprachmusikalischen Ambitionen in ein formales Gerüst einzubinden. Durch das Sonett schwebt gewissermaßen ein „klassischer“ Klangraum über dem modernen Inhalt.
Die Reimordnung folgt nicht dem strengen, italienischen Reimschema (abba abba cdc dcd), sondern variiert es: Eine exakte Zuordnung ist etwas erschwert, da Rilke oft halbreimende oder aus der französischen Tradition adaptierte Reimfolgen verwendet. Jedoch lassen sich im vorliegenden Gedicht annähernd Paarrhythmen und umschließende Reime erkennen:
- In den Quartetten tauchen Paar- und Kreuzreimstrukturen auf, die an Rilkes experimentelle Handhabung der Reimtechnik erinnern. So finden wir in den ersten vier Versen z. B. Reimverbindungen wie „zweier“ / „Leier“ sowie „erreichen“ / „Zeichen“. Dabei wird die Binnenstruktur der Reime – teils an den Versenden, teils klanglich gegeneinander verschoben – zu einer Art feingliedriger Klangarchitektur. Die Quartette wirken nicht streng in einem klassischen Schema verharrend, sondern eher subtil verwoben.
- Die Terzette sind ebenfalls nicht strikt nach dem konventionellen Sonett-Raster geordnet. Statt einer eindeutigen Reimfolge (z. B. cdc dcd) weist Rilke, wie für seine „Neuen Gedichte“ typisch, klangliche Entsprechungen über Stabreime, vokalische Anklänge und assonanzartige Wiederholungen auf. Die Terzette vermitteln so einen fließenden, organischen Übergang vom Bildraum der Quartette hin zu einer offenen, beinahe musikalisch verklingenden Schlussbetrachtung.
Das Versmaß neigt zur deutschen Tradition des jambischen Fünfhebers, ohne jedoch metrisch pedantisch zu sein. Rilke orientiert sich an der natürlichen Sprachmelodie und dem Atemrhythmus, die Zeilen wirken somit zwar metrisch gebunden, bleiben aber flexibel. Beispielhaft kann man den ersten Vers scannen:
„Verzáuberte: wie kánn der Éinklang zwéier“
Hier lässt sich eine tendenziell jambische Grundbewegung erkennen (unbetont-betont), die aber durch Enjambements, Wechsel der Wortakzente und leichte Silbenschwankungen aufgelockert wird. Das Resultat ist ein rhythmisch fließender, nicht starrer, sondern lebendiger Sprachfluss, der gerade die sinnliche Thematik – die Beweglichkeit und Anmut der Gazelle – auch auf klanglicher Ebene nachzeichnet.
Bildlichkeit und thematische Aspekte
Im Zentrum steht die Gazelle, in der zoologischen Spezifikation „Gazella dorcas“. Wie bei „Der Panther“ – jenem weltberühmten Gedicht, in dem das Tier als eingesperrtes Geschöpf in einem Käfig seiner natürlichen Bewegungsfreiheit beraubt ist – schafft Rilke mit der „Gazelle“ ein Kontrastbild: Hier haben wir keine Gefangenschaft, sondern die sanfte, zarte, beinahe überirdische Anmut eines Geschöpfes, das sich durch fließende Bewegung, sprunghafte Eleganz und akustisch-visuelle Geheimnisse auszeichnet. Die Gazelle ist „verzauberte“, einem Zauber unterworfene und verzaubernde Präsenz.
Die Frage nach dem „Einklang zweier erwählter Worte“ (V. 2) und dem „Reim“, der in der Gazelle „kommt und geht“, verlagert den Fokus auf das Wesen des poetischen Sprechens selbst. Anders als in „Der Panther“, wo der Blick, der sich am Gitter reibt, zum Sinnbild erstarrender Wahrnehmung wird, geht es hier um das flüchtige, kaum fassbare Ineinandergreifen von Klang, Rhythmus und Sinn, das die Gazelle gleichsam personifiziert. Dieser Bezug auf das poetische Medium selbst erinnert auch an „Das Einhorn“, wo das mythische Tier für das Nicht-Abbildbare, das Innere, beinahe Mystische steht. Während dort das Einhorn als Traumgestalt anwesend ist, ist die Gazelle ein real existierendes Tier – jedoch von Rilke so poetisiert, dass sie beinahe ins Mythische gleitet. Beide Tiere stehen sinnbildlich für unberührte Seelenwelten und suggerieren, dass die Sprache an ihre Grenze stößt, wenn sie versucht, diese Wesen vollständig zu erfassen.
„Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier“ (V. 4) bildet ein synästhetisches Bild, das pflanzliche und musikalische Elemente mit dem tierischen Motiv verschmelzen lässt. Dadurch entsteht ein komplexer symbolischer Raum: Die Gazelle verkörpert eine natürliche, organische Musik, in der Klang (Leier) und Natur (Laub) ineinanderfließen. Im Kontext der anderen Tiergedichte Rilkes – etwa „Das Einhorn“ mit seinem schwer zu fassenden Wesen oder „Der Panther“ mit seiner eingesperrten Seinsweise – kann man die Gazelle als Äquivalent für die Poesie selbst verstehen: Eine Erscheinung, die sich nur in Bewegung, im Moment des Betrachtens und Verinnerlichens, erschließt.
Die sinnlichen Anspielungen auf Liebeslieder, deren Worte „weich wie Rosenblätter“ sind (V. 7f.), verschaffen der Gazelle eine zweite, verfeinerte Ebene der Wahrnehmung. Wie bei „Das Einhorn“, wo Wörter ebenfalls nicht genügen, um das Wesen zu greifen, dienen hier die Blumenmetaphern und sanften Klänge dazu, die Grenzen sprachlicher Beschreibung zu umschiffen. Das Bild, dass dem Nicht-Leser, dem also nur noch Sehenden, die Wörter wie Blüten auf die geschlossenen Augen gelegt werden, zeigt das Bestreben, durch Poesie einen Raum jenseits der rationalen Lektüre, einen fast meditativen Wahrnehmungsmodus zu eröffnen.
Bewegung, Hörbarkeit und innere Anschauung
Die letzten Terzette spielen mit Bildern dynamischer Anmut und mit Momenten des Innehaltens. Die Gazelle ist, als leichtfüßiges Tier, Inbegriff einer Bewegung, die jederzeit zum Sprung ansetzen könnte („wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen“, V. 10). Gleichzeitig wird diese Dynamik durch das Spannen der Wahrnehmung in der Zeit gehalten – der Hals „hält das Haupt ins Horchen“ (V. 12). Hier gewinnt die auditive Ebene besondere Bedeutung: Wie in „Der Panther“ die optische Wahrnehmung entscheidend ist, so ist es hier das Hören, das Lauschen auf eine innere Melodie. Rilke überträgt damit das Kernanliegen seiner „Ding-Gedichte“ – das Objekt so zu sehen/hören/fühlen, wie es ist – in eine synästhetisch erweiterte Dimension.
Der Schlusssatz, der den vergleichenden Bezug auf die Wald-Badende zieht, die sich im Akt des Badens unterbricht und deren Gesicht sich im Waldsee spiegelt, ist ein komplexes Chiffre: Die Gazelle, eben noch als Inbegriff zarter, schwer beschreibbarer Bewegung eingeführt, wird hier zum metaphorischen Gegenbild für ein Wahrnehmungsgeschehen, in dem das äußerlich Sichtbare sich im Inneren (im „gewendeten Gesicht“) spiegelt. Diese Spiegelung verweist auf eine wechselseitige Durchdringung von Subjekt (Betrachter) und Objekt (Gazelle), von Außenwelt und Innerem Erleben – ein Gedanke, der auch in „Das Einhorn“ oder „Der Panther“ als Grundmotiv erkennbar ist, wenn auch auf andere Art: Beim Panther wird der Blick des Betrachters in die Leere der Käfigstäbe zurückgeworfen, beim Einhorn ist der Betrachter mit einem Wesen konfrontiert, das sich jeder klaren Definition entzieht. Bei der Gazelle hingegen kommt es zu einer harmonischen Verschmelzung von Sehen, Hören, Fühlen und Imaginieren.
Schlussgedanken
„Die Gazelle“ ist ein formal streng gestaltetes, aber metrisch flexibel gehandhabtes Sonett, in dem Rilke eine subtile, vielschichtige Klang- und Bildwelt entwirft. Das Tier wird nicht naturalistisch, sondern als poetische Chiffre seiner eigenen Sprachkunst dargestellt. Der Einsatz von rhythmischer Feinabstimmung, reimlichen Anspielungen, Anklängen und synästhetischen Metaphern erschafft einen Klangraum, in dem das Unaussprechliche, Fluide und Beinahe-Mythische des Tieres in Sprachgestalt aufscheint. Im Vergleich mit „Der Panther“ und „Das Einhorn“ formt sich ein tripolares Verständnis von Rilkes Tierpoetik: Das Eingeschlossensein (Panther), das Mythisch-Unerreichbare (Einhorn) und die spielerisch-verzauberte, hörbare Bewegung (Gazelle) bilden unterschiedliche Facetten seines Versuchs, die innersten Geheimnisse des Lebendigen, des Schönen und des Poetischen zu ergründen.