DAS EINHORN

Bild zeigt Rainer Maria Rilke
von Rainer Maria Rilke

Der Heilige hob das Haupt, und das Gebet
fiel wie ein Helm zurück von seinem Haupte:
denn lautlos nahte sich das niegeglaubte,
das weiße Tier, das wie eine geraubte
hilflose Hindin mit den Augen fleht.

Der Beine elfenbeinernes Gestell
bewegte sich in leichten Gleichgewichten,
ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell,
und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,
stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,
und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.

Das Maul mit seinem rosagrauen Flaum
war leicht gerafft, so daß ein wenig Weiß
(weißer als alles) von den Zähnen glänzte;
die Nüstern nahmen auf und lechzten leis.
Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte,
warfen sich Bilder in den Raum
und schlossen einen blauen Sagenkreis.

Veröffentlicht / Quelle: 
Rilke, Rainer Maria: „DAS EINHORN“. In: Ders., Neue Gedichte. 1. Aufl. Leipzig: Insel-Verlag 1907, S. 39.

Akademische Analyse von Rainer Maria Rilkes „Das Einhorn“

Rainer Maria Rilkes „Das Einhorn“ stammt aus dem Umfeld der „Neuen Gedichte“ (1907), in denen der Dichter mit Formen, Bildern und Perspektiven experimentiert, um das Wesen von Gegenständen, Kunstwerken, Tieren und mythischen Gestalten zu ergründen. Während viele der „Neuen Gedichte“ als Sonette gestaltet sind, weicht „Das Einhorn“ formell von dieser Erwartung ab. Statt der klassischen 14-zeiligen Sonettform aus zwei Quartetten und zwei Terzetten liegt hier eine dreistrophige Gliederung vor, die aus 5, 6 und 7 Versen besteht – insgesamt also 18 Zeilen. Diese ungewöhnliche Struktur unterstützt die inhaltliche Besonderheit des Einhorns als mythisches, formwandlerisches Wesen, das sich nicht ohne Weiteres in bekannte lyrische Formen pressen lässt.

Form und Struktur

Das Gedicht ist in drei unterschiedlich lange Strophen gegliedert:

  • Erste Strophe: 5 Verse
  • Zweite Strophe: 6 Verse
  • Dritte Strophe: 7 Verse

Die steigende Versanzahl (5-6-7) suggeriert eine schrittweise Ausweitung des lyrischen Raums. Obgleich Rilke oft die klassische Sonettform verwendete, scheint er hier bewusst auf eine strenge, traditionelle Einteilung zu verzichten. Stattdessen entsteht ein Rhythmus, der nicht in klar abgezirkelte Blöcke zerfällt, sondern sich allmählich öffnet. Diese Dehnung könnte symbolisch auf die zunehmende Unfassbarkeit und die raumerweiternde Wirkung des Einhorns verweisen: Mit jeder Strophe wird das Bild umfassender, der lyrische Raum weitet sich, als ob der Blick des Betrachters und die Vorstellungskraft selbst sich dehnten.

Metrisch ist das Gedicht dennoch sorgfältig gearbeitet. Rilke orientiert sich häufig an einem jambischen Grundgestus, spielt aber mit Enjambements, variierenden Wortakzenten und Klangmustern. Reime und Assonanzen fügen sich fließend in den Text, ohne dass ein starres, sofort erkennbares Reimschema dominiert. Das Klanggewebe unterstützt die Atmosphäre von Zartheit, Mystik und Entrückung, die das Einhorn umgibt.

Inhaltliche Aspekte und Bildlichkeit

Das Einhorn erscheint hier als ein „niegeglaubtes“ Wesen, das sich einem Heiligen naht. Dieser Zusammenhang zwischen dem religiös konnotierten Beobachter (der Heilige) und dem mythischen Tier schafft eine Aura des Sakralen. Das Gebet des Heiligen löst sich von seinem Haupt, als würde die Anwesenheit des Einhorns selbst zum höheren Mysterium. Die starre, überlieferte Form des Gebets weicht einer unmittelbaren Begegnung mit dem Unaussprechlichen.

Die Beschreibung des Einhorns ist von strahlendem Weiß, Leichtigkeit und Anmut geprägt. Das Tier wird in einzelnen körperlichen Details geschildert – elfenbeinerne Beine, der rosagraue Flaum am Maul, glänzende Zähne, lichter Stirnschmuck. Dennoch ist es nicht als realistisch-greifbares Wesen präsentiert, sondern als ein Geschöpf, das zwischen den Welten existiert: Zum einen ist es körperlich und sinnlich konkret (Fell, Zähne, Nüstern), zum anderen bleibt es eine ätherische Erscheinung, der Mythos eingeschrieben ist. Das Horn „wie ein Turm im Mond“ ist ein starkes symbolisches Bild: Es erhebt sich aus dem Körper des Tieres wie ein Sinnbild reiner Transzendenz, ein Leuchtpunkt zwischen Irdischem und Überirdischem.

Die Schlusszeilen betonen den grenzenlosen Blick des Einhorns. Seine Blicke „warfen sich Bilder in den Raum und schlossen einen blauen Sagenkreis“. Dieser „Sagenkreis“ verweist auf eine mythische Sphäre, in der das Einhorn nicht nur ein Objekt von Betrachtung ist, sondern selbst einen narrativen und imaginierten Raum schafft. Das Tier erzeugt durch seine bloße Anwesenheit etwas Erzählerisches, Poetisches und Archaisches, das über den rationalen Zugriff hinausgeht.

Vergleich mit anderen Tierdarstellungen Rilkes

Im Kontext von Rilkes anderen Tiergedichten wie Der Panther oder Die Gazelle ergeben sich interessante Kontraste. Der Panther ist ein existierendes Tier, doch in einen Käfig gesperrt und innerlich erstarrt. Die Gazelle ist frei, elegant und erfüllt von klanghafter Leichtigkeit, aber immer noch ein reales Geschöpf. Das Einhorn hingegen gehört eindeutig der Sphäre des Mythischen an. Es lässt sich nicht in die Normalität des Alltags einfügen, sondern sprengt durch seine Präsenz erwartbare Formen, Symbole und Sprachmuster. Mit seiner formlosen Strophenstruktur (5-6-7) korrespondiert Rilke die Andersartigkeit des Einhorns auch auf formaler Ebene. Im Gegensatz zu dem in klaren Formen gefassten „Panther“-Sonett erweist sich das Einhorn als poetisches Wesen, das sich auch formal nicht leicht bändigen lässt.

Schlussgedanken

„Das Einhorn“ ist ein Beispiel für Rilkes Fähigkeit, durch lyrische Verdichtung und symbolträchtige Bildsprache ein Transzendieren des Gewohnten zu erreichen. Die formale Eigenständigkeit – drei Strophen mit anwachsender Zeilenzahl statt eines klassischen Sonetts – unterstreicht die außerordentliche Natur des Einhorns. Die Begegnung zwischen dem Heiligen und dem Fabeltier verschiebt die Hierarchie von Betrachter und Betrachtetem und öffnet einen Raum mythischer Erzählung, symbolischer Leuchtkraft und innerer Erfahrung. Dieses Gedicht steht somit exemplarisch für die Vielfalt an poetischen Formen, die in Gedichten unterschiedlicher Dichterinnen und Dichter zu entdecken ist. Es ist kein starres „Dinggedicht“ im konventionellen Sinn, sondern ein poetischer Akt der Erweiterung, in dem die Grenzen zwischen real und irreal, zwischen betender Hingabe und sprachlicher Vergegenwärtigung verwischen.

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