Verhext; Ode an einen alten Freund

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Großer edler Bruder.
Leer nun die neue
Auffahrt unter dem
alten Sommerhimmel
blau gespannt
mit weißen Wolken
suche ich dich ein
halbes Jahrhundert später
noch immer vergeblich.

Hier sollt ich leben:
Ein winziges Kind
mit staunenden Augen
sah ich zu dir hinauf
aus dem verschlissenen
Korbwagen und mir war
zumut, als stürztest du
leicht über mich hinweg.

Die lange Straße lang
eingeprägt im limbischen
System – auf ewig auch
jene Hausnummer ...
auf Postkarten und
Kuverts schrieb
ich sie oft „Am Neuendeich“ ...
der war längst erschöpft
von herbstlichen Sturmfluten
und launischen Gezeiten.

Edler Bruder, lehrtest
mich spielen unterm
summenden Sonnendach:
üppig im Winter noch
Samariter im Herbst
mit glänzenden Früchten.

Wind darin gekurvt …
lehrtest die Rede auch, die
umgeht unter den Menschen
zu schweigen, zu seufzen:
Lautlos mit Fiederblättern
und grünen Kastanienhänden
fünffingrig im langen Haar
lag ich wach und träumte
den Nachtweg zur Auffahrt
mir schön ohne den
pechschwarzen Schotter.

Alter Freund,
auch deine Kinder
zu Honig verhext
werden verkauft dort
auf dem Moskauer Markt
im August, wenn das Grün
der Taiga noch schimmert.

Honigbrot zu kosten,
Medоwucha und Sbiten*
nur einen Fingerhut voll
zu trinken, werd ich mich
einfinden vorm Kolomenskoje Park
irgendwann – das steht fest.

*Medоwucha und Sbiten sind alte slawische alkоhоlhaltige Getränke mit sehr würzigem Geschmack. Hauptsächlicher Inhaltsstоff ist Hоnig, dazu können auch Hоpfen, Gewürze und Beeren kommen. Es findet eine Honigmesse (Jahrmarkt genannt) jedes Jahr in Moskau vor dem Kolomenskoje Park im Februar und im August statt. Genaue Termine findet man im Internet.

Gedichtform: 
Thema / Schlagwort: