Dann gibt es nur eins!

Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen - sondern Stahlhelme und Maschinengewehre. dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützengewehre montieren, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN! Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst
statt Puder und Kakao Schießpulver verkaufen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst Haßlieder singen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir morgen befehlen, du
sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pfarrer auf der Kanzel. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst den Mord segnen und den Krieg heilig sprechen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Kapitän auf dem Dampfer. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keinen Weizen mehr fahren - sondern Kanonen und Panzer, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Pilot auf dem Flugfeld. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Bomben und Phosphor über die Städte tragen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Schneider auf deinem Brett. Wenn sie dir morgen befehlen,
du sollst Uniformen zuschneiden, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Richter im Talar. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst zum Kriegsgericht gehen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransport, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Hoangho und am Mississippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo - Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!
Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann:
dann:
In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die großen Schiffe stöhnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge gegen die toten vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und muschelüberwest den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben -
die Straßenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Straßen -
eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwälzen, gefräßig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitäten und Schauspielhäusern, auf Sport- und Kinderspielplätzen, grausig und gierig, unaufhaltsam - der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis wird in der verdorrten Erde vertrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden Äckern erfrieren und die Kühe werden ihre totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken -
in den Instituten werden die genialen Erfindungen der großen Ärzte sauer werden, verrotten, pilzig verschimmeln -
in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern werden die letzten Säcke Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und Kirschsaft verkommen - das Brot unter den umgestürzten Tischen und auf zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter wird stinken wie Schmierseife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten Pflügen hingesunken sein wie ein erschlagenes Heer und die qualmenden Ziegelschornsteine, die Essen und die Schlote der stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras zugedeckt, zerbröckeln — zerbröckeln — zerbröckeln —
dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend - und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch – all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn – wenn – wenn ihr nicht NEIN sagt.

Veröffentlicht / Quelle: 
Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, Rowohlt 1986, Seite 318 ff

Gedichtanalyse: „Dann gibt es nur eins!“ von Wolfgang Borchert

Einleitung

Das Gedicht Dann gibt es nur eins! von Wolfgang Borchert ist ein eindringlicher Appell gegen Krieg und Gewalt. Verfasst nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs, thematisiert es die Verantwortung des Einzelnen in einer von Militarismus und Zerstörung geprägten Welt. Die Analyse untersucht Inhalt, Form, sprachliche Mittel und die Botschaft des Gedichts.


Inhaltliche Analyse

Borchert beschreibt in seinem Gedicht die schrecklichen Folgen des Krieges und stellt die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen. Es wird klar, dass der Sprecher den Krieg nicht nur als großes politisches Ereignis wahrnimmt, sondern als ein zutiefst persönliches Vergehen an der Menschlichkeit.

Das Gedicht gipfelt in einem eindringlichen Aufruf zum Widerstand: Wenn Befehle erteilt werden, die Leid und Zerstörung verursachen, dann dürfe man nicht gehorchen. Es fordert eine aktive Verweigerung von Gewalt und eine klare Haltung gegen Unrecht.


Formale Analyse

Das Gedicht ist in freien Versen verfasst und weist keine feste Metrik oder Reimschema auf. Diese Offenheit unterstreicht die Dringlichkeit und Unmittelbarkeit der Botschaft. Die Wiederholungen und rhythmischen Strukturen schaffen jedoch eine innere Dynamik, die den appellativen Charakter des Textes unterstützt.

Die Strophen sind kurz und prägnant, was die Klarheit und Eindringlichkeit der Aussage betont. Der Aufbau folgt einer Steigerung: Zunächst werden die Schrecken des Krieges beschrieben, bevor die Aufforderung zum Widerstand immer deutlicher wird.


Sprachliche Mittel

  1. Wiederholungen

    • Sätze wie „Dann gibt es nur eins!“ werden wiederholt, um die Dringlichkeit und Alternativlosigkeit der Handlung zu betonen.
  2. Metaphern

    • Bilder wie „die Gewehre hochheben“ oder „die Welt ist laut vor Angst“ verdeutlichen die Schrecken des Krieges und machen die Verantwortung des Einzelnen greifbar.
  3. Direkte Ansprache

    • Der Sprecher wendet sich direkt an den Leser, wodurch eine persönliche Betroffenheit erzeugt wird.
  4. Aufzählungen

    • Die Auswirkungen des Krieges und die Forderungen an den Einzelnen werden in knappen, aneinandergereihten Bildern dargestellt, was die Intensität verstärkt.
  5. Konzentration auf Handlung

    • Das Gedicht ist handlungsorientiert, was die Aktivität und Verantwortung des Individuums in den Vordergrund stellt.

Interpretation

Das Gedicht ist ein klares Antikriegswerk, das sich gegen Gehorsam und die Passivität der Menschen in kriegerischen Zeiten richtet. Borchert fordert Zivilcourage und aktiven Widerstand gegen Befehle, die Leid und Zerstörung bringen. Er zeigt auf, dass Schweigen oder Mitmachen keine Option ist, da es die Gewalt nur perpetuiert.

Die Dringlichkeit des Gedichts lässt sich durch Borcherts persönliche Erfahrungen erklären: Als Soldat im Zweiten Weltkrieg und Kriegsgefangener erlebte er die Schrecken des Krieges und die Verzweiflung über eine zerstörte Menschlichkeit hautnah. Diese Erfahrungen fließen in das Gedicht ein und verleihen ihm Authentizität.

Die direkte Ansprache macht Dann gibt es nur eins! zu einem universellen Appell, der zeitlos bleibt. Es fordert den Leser auf, sich mit der eigenen Verantwortung auseinanderzusetzen und zeigt, dass moralisches Handeln oft unbequem, aber notwendig ist.


Schluss

Wolfgang Borcherts Dann gibt es nur eins! ist ein kraftvolles Antikriegsgedicht, das zur Reflexion über Gehorsam, Verantwortung und Zivilcourage aufruft. Mit seiner klaren Sprache und der appellativen Struktur ist es nicht nur ein literarisches Werk, sondern auch ein moralischer Kompass. Borcherts eindringliche Botschaft hat bis heute nichts an Aktualität verloren und erinnert daran, dass Frieden und Menschlichkeit nur durch den Widerstand gegen Unrecht bewahrt werden können.

Gedichtform: