(Deutsche Übersetzung von Hedwig Lachmann)
Die Wolken thürmten sich mächtig,
Die Blätter waren verdorrt,
Sie waren kraus und verdorrt,
Es war Oktober und nächtig
An einem unseligen Ort.
Es war nahe dem bleiernen Wasser,
Das da so verschlafen steht,
Am Hain, wo des Nachts sich ein blasser,
Hohläugiger Schwarm ergeht.
Die Gegend schroff und titanisch,
Durchstreift’ ich mit Psyche allein,
Meiner Seele, Psyche, allein,
Zur Zeit, da mein Herz noch vulkanisch,
Wie die Berge, die rastlos spei’n,
Die Feuerströme ausspei’n,
Wie der Berg am Nordpol, der kreißend
Ein flammendes Meer gebiert,
Das sich gewaltsam und reißend
Hinunterstürzt und verliert,
Hinunterwälzt und verliert.
Unsre Rede war ernst und gemessen,
Die Gedanken welk und verdorrt,
Die Gedanken lahm und verdorrt.
Das Gedächtniß war pflichtvergessen,
Denn es mahnte uns nicht an den Ort,
An die Zeit nicht, und nicht an den Ort.
Wir ahnten nicht Ort und nicht Stunde
Und nicht den Monat im Jahr,
Den unsel’gen Monat im Jahr,
Daß es nahe dem heimlichen Grunde
Und dem bleiernen Wasser war.
Und da nun die Nacht sich neigte
Und der Zeiger der Sternenuhr,
Der himmlischen Sternenuhr
Dem Tag zustrebte, da zeigte
Sich ein nebliger Schein am Azur.
Und diesem weißlichen, zarten
Duftschleier entschwebte zuletzt
Das Diadem von Astarten
Mit Diamanten besetzt.
Und ich sprach: Sie ist wärmer und milder
Als die keusche Schwester Apoll’s,
Die flinke Schwester Apoll’s.
Diana ist feuriger, wilder,
Doch innerlich kühl und stolz.
Sie aber wandelt durch Sphären
Von Seufzern und wirft ihr Licht,
Ihr sanftes, freundliches Licht
Auf die nimmer trocknenden Zähren
Im gramvollen Erdengesicht.
Und kommt durch das Sternbild des Löwen
Und weist uns den Weg zum Glück,
Den Weg durch Lethe zum Glück
Und kommt durch die Höhle des Löwen,
Erwärmt uns mit Ihrem Blick,
Mit ihrem liebenden Blick.
Da sah ich Psyche erschaudern.
Sie sprach: Ich trau’ ihr nicht,
Ich trau’ dieser Blässe nicht.
O komm, o laß’ uns nicht zaudern,
Ich fürchte dies weiße Licht,
Dies weiße, flackernde Licht.
Eine Angst, unbeschreiblich, unsäglich
Durchbebte sie, während sie sprach,
Während so hastig sie sprach,
Sie schluchzte und schleppte kläglich
Ihre Schwingen am Boden nach,
Die Schwingen im Staube nach.
Ich erwiderte: Du siehst Gespenster,
Laß uns tauchen in dieses Meer,
Dies krystallene, leuchtende Meer,
Sein Raum ist ein unbegrenzter,
Sieh nur, hin wogt es und her,
Es zittert und wogt hin und her,
Es strahlt und fluthet im Blauen
Mit wahrhaft sybillischer Pracht,
Glaub’ nur, wir dürfen ihm trauen,
Es leuchtet uns durch die Nacht,
Wir dürfen dem Wegweiser trauen,
Denn er leuchtet zu Gott durch die Nacht.
So suchte ich sie zu beschwicht’gen
Und küßte sie brüderlich warm,
Ich küßte sie zärtlich und warm,
Und ich sah ihre Angst sich verflücht’gen
Und wir eilten voran Arm in Arm.
Durch dunkle Cypressenalleeen
Und athmeten ihren Duft –
Da blieben wir plötzlich stehen
Vor der Thüre zu einer Gruft,
Zu einer mystischen Gruft.
Und ich sprach: Was sagt dieser stumme,
Bedeutsame Mund von Stein?
Da erwiderte sie: Ulalume –
Hier ruht Ulalumens Gebein,
Deiner Ulalume Gebein. –
Da ward stumpf mein Herz und ohnmächtig,
Und wie die Blätter verdorrt,
Wie die Blätter welk und verdorrt.
Ja, Oktober war es und nächtig,
Rief ich aus und an diesem Ort,
Ich erkenne deutlich den Ort.
Am Teich erging sich ein blasser,
Hohläugiger, grinsender Schwarm,
Und ich irrte an diesem Wasser
Eine schaurige Bürde im Arm,
Ein kalte Bürde im Arm. –
Die Wolken thürmten sich mächtig,
Die Blätter waren verdorrt.
Es war Oktober und nächtig
An einem unseligen Ort.
Gedichtanalyse: Ulalume von Edgar Allan Poe
Einleitung
Edgar Allan Poes Gedicht Ulalume, erstmals 1847 veröffentlicht, gilt als eines seiner komplexesten Werke, geprägt von düsteren Bildern und melancholischer Stimmung. Das Gedicht erzählt von einer nächtlichen Wanderung, die der Sprecher gemeinsam mit seiner Seele, Psyche, unternimmt. Dabei werden Erinnerungen an einen tragischen Verlust wachgerufen. Mit seiner charakteristischen Musikalität und den tiefen Symboliken ist Ulalume ein Paradebeispiel für die lyrische Kunst Poes, das Themen wie Tod, Erinnerung und die Unmöglichkeit des Vergessens behandelt. Diese Analyse untersucht die inhaltliche Ebene, die formale Struktur, die sprachlichen Mittel und die philosophischen Implikationen des Gedichts.
Inhaltliche Analyse
Das Gedicht beschreibt eine nächtliche Wanderung durch eine düstere, herbstliche Landschaft. Der Sprecher, begleitet von seiner Seele Psyche, durchschreitet eine titanische, unwirtliche Umgebung. Die Reise führt ihn zu einer Gruft, in der die Frau Ulalume, vermutlich eine frühere Geliebte, begraben liegt. Erst am Ende wird dem Sprecher bewusst, dass er an diesem Ort bereits gewesen ist, was die Kreisförmigkeit seiner Trauer symbolisiert.
- Trauer und Verlust: Die Wanderung wird zu einer Allegorie für den Versuch, den Verlust zu verarbeiten, der jedoch immer wieder in die gleiche emotionale Sackgasse führt.
- Psyche als Begleiterin: Die Seele des Sprechers wird personifiziert, was die innere Zerrissenheit und die Reflexion über den Tod verdeutlicht.
- Zeit und Vergessen: Der Oktober und die nächtliche Atmosphäre unterstreichen die Vergänglichkeit und das Unvermögen, sich vollständig von der Erinnerung zu lösen.
Formale Analyse
Struktur
Das Gedicht besteht aus mehreren Strophen mit unregelmäßiger Länge und variierender Versanzahl, was die assoziative und traumhafte Stimmung unterstützt. Die Wiederholungen und Schleifenhaftigkeit der Gedanken werden auch durch die Struktur der Strophen betont.
Reimschema
Poe verwendet ein komplexes Reimschema, das sich häufig wandelt, z. B. Kreuzreim (ABAB) oder Paarreim (AABB). Diese Flexibilität erzeugt Musikalität und eine fast hypnotische Wirkung, die charakteristisch für Poes Lyrik ist.
Metrum
Das Gedicht ist im Wechsel von trochäischen und daktylischen Versen verfasst, was der Melancholie und dem Rhythmus der Nachtwanderung entspricht. Die häufig auftretenden Kadenzen (Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben) verstärken die klagende Tonalität des Gedichts.
Beispiel:
„Die Wolken thürmten sich mächtig,
Die Blätter waren verdorrt.“
- Der Trochäus (betont-unbetont) dominiert in den meisten Versen, was dem Gedicht eine rhythmische Geschlossenheit verleiht.
Sprachliche Mittel
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Wiederholungen und Refrains: Wörter und Phrasen wie „Die Blätter waren verdorrt“ oder „Ich erkenne deutlich den Ort“ kehren zurück, was den Kreislauf von Erinnerung und Schmerz betont.
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Metaphorik und Symbolik:
- Psyche: Personifiziert als Begleiterin, steht sie für das innere Selbst und die Reflexion.
- Ulalume: Der Name könnte eine lautmalerische Verbindung zu „lament“ (Wehklagen) haben und symbolisiert die nicht enden wollende Trauer.
- Oktober: Symbol für Vergänglichkeit und Tod.
- Gruft: Steht für das Unterbewusstsein, in dem die verdrängten Erinnerungen ruhen.
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Farbgebung: Die Farben Blau und Weiß prägen die Bilder des Gedichts und symbolisieren sowohl Reinheit als auch Kälte und Tod.
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Musikalität: Die Alliterationen und Assonanzen schaffen einen melodischen Klang, der das Leseerlebnis intensiviert:
- Alliteration: „Bleiernen Wasser, das da so verschlafen steht“
- Assonanz: „Nichts athmete, nur wir, nur du und ich“
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Antithetik: Der Kontrast zwischen der suggestiven Schönheit der Landschaft und der düsteren Stimmung des Sprechers spiegelt das Spannungsverhältnis zwischen Leben und Tod wider.
Interpretation
Das Gedicht Ulalume ist eine Reflexion über die Unmöglichkeit, vergangene Verluste vollständig zu überwinden. Es verweist auf die Wiederholungsschleife von Trauer und Erinnerung, die den Menschen immer wieder in den gleichen emotionalen Raum zurückführt. Die Wanderung durch die titanische Landschaft symbolisiert die Suche nach Klarheit und Erlösung, doch endet sie in der Konfrontation mit dem eigenen Schmerz.
Poes philosophische Botschaft ist in diesem Gedicht tief verwurzelt: Die Erinnerung an den Verlust bleibt unausweichlich, und selbst der Versuch, ihr zu entfliehen, führt zu einer erneuten Konfrontation. Das Werk kann auch als eine Allegorie auf die menschliche Unfähigkeit gelesen werden, den Tod und die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren.
Schluss
Ulalume ist ein Meisterwerk der Melancholie und der lyrischen Symbolik. Es verbindet Poes typische Themen wie Tod, Trauer und Erinnerung mit einer einzigartigen Musikalität und tiefgehenden Bildern. Das Gedicht bietet eine universelle Botschaft über die menschliche Erfahrung von Verlust und die Grenzen der Bewältigung. Die formale Eleganz und die inhaltliche Tiefe machen es zu einem herausragenden Werk der romantischen Dichtung, das bis heute seine Leser in den Bann zieht.