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und Trennung, selbstloses Verzichten und selbstsüchtiges Eingreifen, Schützen und Vergewaltigen, Dienen und Herrschen verschlangen sich ununterscheidbar in einem einzigen Gefühlsknoten, in einem einzigen Augenblick berauschenden Erlebens.
»Ist es nun nicht gut, daß du mir gehorchen und vertrauen mußt? daß wir nicht sind wie ›zwei Kinder im Walde‹, die sich verlaufen? Für die es schlimm wäre, wollte eines das andre aus den Augen verlieren, – verlassen. Mir kommst du aus den Augen, und doch nie von der Hand. Ich bin mit dir wie jemand, den du nicht neben dir stehn siehst, und doch um dich weißt, – über dir walten, wo du auch gehst und stehst. Wie jemand, den du nicht fragen kannst, und der zu manchem schweigt, – der aber doch alles weiß, was dir not tut und gut tut wie –«
»Wie Gott,« sagte Ruth keck.
Das Wort lief wie ein Schauder über ihn hin. Aus Gespensterfurcht?
Nein. Aber wohl, weil er ahnte, was mit diesem Wort in ihr selbst aufwachen mochte an unbewußtem, ungeheuerem Fordern und Bewundern und Erwarten.
Sie sagte es gar nicht in Ekstase. Wie etwas Selbstverständliches. Wie ein Kind einen Kuß gibt.
Aber er ahnte: nie, noch nie war sie der Liebe, der vollen Liebe, so nah wie in diesem kindlichsten Bekenntnis, – dem vermessensten.
Nein, keine Gespensterfurcht! vor nichts. Und er küßte sie aufs Haar.
»Nicht wie Gott, Ruth. Und doch sei es für dich: wie dein Gott.«
*
Im Wohnzimmer war Klare-Bel damit beschäftigt, Ruths Koffer zu schließen und ihr eine kleine Reisetasche zu füllen. Gonne half, das Letzte zu ordnen und zu besorgen. Am Gartengitter draußen stand ein leichtes Fuhrwerk, eine ländliche »Karfaschka«, die das Gepäck aufnehmen sollte. Erik wollte mit Ruth zu Fuß zum Bahnhof gehn.
Als das Gepäck aufgeladen wurde, kam er mit ihr aus seinem Arbeitszimmer heraus. Klare-Bel blickte fast ungläubig auf. Weder er noch Ruth machten ein trauriges Gesicht. Und doch wußte sie: erst jetzt hatte er's Ruth dort im Zimmer mitgeteilt.
»Wie er das nur zustande gebracht hat? Er kann doch alles, was er will!« dachte sie bewundernd.
Das kleine Fuhrwerk rasselte davon, auf dem holperigen Landweg in beständiger Gefahr, eines seiner wackelnden Räder zu verlieren. Erik scherzte dar über, und Ruth hatte ihre Schelmengrübchen in den Wangen.
Es war eine Heiterkeit, wie wenn an einem großen stummen, dunkeln Gewässer ein Sonnenrand aufblitzt und die Oberfläche mit glitzernden Perlen überblitzt.
Nur Gonne stand in der Küche und weinte mit einem mürrischen, verschämten Gesicht.
Einige Minuten lang konnte Ruth noch bei Jonas im Zimmer verweilen. Dann trat sie reisefertig, die graue Wollmütze auf dem Kopf, heraus.
Jonas horchte angestrengt. Er hörte sie über den Flur gehn, – den letzten grüßenden Zuruf seiner Mutter, – die Türen gingen, – – dann eine Minute Pause, – – und nun fiel mit einem schwachen Knarren die Gartenpforte ins Schloß.
*
Langsam, totenstill schlichen die Stunden hin, eine um die andre. Am frühen Nachmittag kehrte Erik aus der Stadt zurück.
Aber es blieb so still wie zuvor.
Jonas hielt es nicht länger im Bett aus, er stand auf, und seinen nassen Umschlag um den Hals, einen dicken Wollstrumpf darüber gebunden, stahl er sich auf seinen roten Pantoffeln in das Zimmer des Vaters.
Der Vater war nicht da.
Jonas setzte sich an den großen Schreibtisch. Er mußte machen, daß er fertig wurde, eh ihn der Vater hier überraschte.
Und seine Feder kratzte über das Papier. Er schrieb an Ruth:
»Süße, liebe Ruth!
Ich habe mich in Papas Zimmer hingesetzt an den Tisch, an dem Du arbeitetest.
So ungeheuer gern wär ich zum Bahnhof mitgegangen! Weinen wollt' ich aber nicht, ich biß ins Kissen. Als aber in der Ferne der Zug lospfiff (vielleicht war es gar nicht Dein Zug), da hab' ich trotzdem ein bißchen geweint. Ich dachte: nun fährt sie fort.
Papa hat mir aber einen guten Rat gegeben. Ich will Dir noch nicht sagen, was für einen. Ich will ihn lieber erst befolgen. Und solange ich ihn befolgen muß, was ziemlich lange dauern kann, werde ich Dir nicht schreiben. Aber dann schreibe ich Dir, daß Du meine Frau werden mußt. Im Spiel hast Du es niemals sein wollen, und das hat mich manchmal so schwer gekränkt. Aber das war dumm von mir. Denn erst muß ich ein ganzer Mann für Dich geworden sein.
Darüber habe ich Papa noch nichts zu sagen gewagt.
Jetzt muß ich schließen. Aber ich mußte es Dir gleich schreiben, damit Du es weißt. Vergiß mich nur nicht, wenn Du dort einen andern Jungen findest. Am Ende sogar einen fertigen Studenten? Dann würde ich mich ja hier so ganz umsonst anstrengen.
Aber vielleicht findest Du keinen.
Ich küsse Dich mit tausend Küssen.
Dein Freund
(Dein zukünftiger Mann)
Jonas.
Pst. Scr.: Ich weiß nicht, wo Papa jetzt ist, ich bin heimlich auf. Sonst würde er Dich sicher grüßen lassen.«
Erik war oben in der leeren kleinen Giebelstube.
Er stand am Fenster und weinte.
V.
Unflüggem Vöglein gleich, dem bangt,
Wo's flatternd eine Zuflucht fände,
So bin ich, flüchtend nur, gelangt,
Ein armes Kind, in deine Hände.
Kam scheinbar wohl in trotz'gem Sinn, –
Doch nur von Einsamkeit getrieben,
Und kniete schweigend bei dir hin
Und wollte nichts, als Etwas lieben.
Und wollte nichts, als kurze Zeit
Gleich einem Kind mich wieder wissen,
Nichts, als ein wenig Zärtlichkeit
Ganz scheu, von ferne, mitgenießen.
Nichts, als von kindlich tiefer Qual
Auf einen Augenblick nur rasten,
Nichts, als die Kindesbrust einmal
In heißer Hingebung entlasten.
Wie ward mir wohl, da ich dich fand,
Als müßte jeder Wunsch sich stillen,
Seit dem du mich mit sanfter Hand
Geborgen ganz in deinen Willen.
Als würde plötzlich alles klar,
Als müßten alle Wirren weichen,
Seit über das verwehte Haar
Mir deine lieben Hände streichen.
Bis daß ein jeder Schmerz hinfort
Versank vor zaubermächt'gem Troste,
Seit mit dem ersten Liebeswort
Dein Blick mich zwang und mich liebkoste;
Bis ganz die Welt um uns versank –
Und nichts von allem mehr geblieben,
Als nur ein grenzenloser Dank –
Und nur ein grenzenloses Lieben.
Ruth hatte das nicht gedichtet. Erik hatte es gedichtet. Aber Ruth hatte es gestammelt. Ungezähltemal. Vielleicht auch in ungezählten Versen.
Er wußt' es nicht. Aber oben in der Giebelstube, unter fortgeworfenen Papieren und verwelkten Blumen, hatte das durchgerissne Blatt mit den gestammelten Versen gelegen.
Und seit dem dichtete er diese Verse, er sah vor sich hin und dichtete an ihnen.
Ruth hatte sie nicht gedichtet. Erik hatte es getan.
Aber so, – so würde sie sie in jedem Worte gedichtet