Ruth - Page 53

Bild von Lou Andreas-Salomé
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haben – ein wenig später – im Rückblick.

*

Sie saßen alle zusammen.

Klare-Bel im Hintergrunde der Wohnstube in einem großen, bequemen Lehnstuhl. Jonas am Eßtisch; er hatte die Lampe dicht herangerückt, um besser sehen zu können was er in sein Schulheft schrieb. Erik am Kamin, worin mächtige Holzkloben brannten; von Zeit zu Zeit bückte er sich und warf aus einem blank geputzten Kohlenbehälter, der mit Tannenzapfen erfüllt war, ein paar von den braunen harzigen Zapfen in die Glut.

Das Zimmer hatte ein ganz winterliches Aussehen bekommen. An Stelle der leichten Sommergardinen schwere schützende Fenstervorhänge, am Kamin zwei Sessel aus der Stadtwohnung, unter denen ein mächtiger Bär seine Tatzen vorstreckte.

Schon im Anfang des russischen März, noch ehe der Winter zu Ende ging, war dieses Jahr die Übersiedlung vor sich gegangen. Klare-Bels wegen. Hinter ihr lag der Leidensweg eines halben Jahres, der sie langsam zur Genesung führte.

In der Ecke lehnten zwei starke Stöcke mit Krückgriffen. An diesen Stöcken mußte sie täglich einige Schritte tun. »Laufen lernen,« wie Jonas lachend sagte, der ihr am liebsten die Stöcke ersetzte. Und diese Schritte sollte sie in frischer Luft tun.

Sie saßen alle zusammen und schwiegen zusammen. Klare-Bel saß in halb liegender Stellung und sann vor sich hin; die Handarbeit, die sie vorgehabt hatte, entglitt ihren Händen. Sie fühlte sich müde von ihren wenigen Schritten.

Jonas, der war wie verrannt in seine Arbeit. Mit den schmalen Schultern, lang aufgeschossen, ein wenig weichen blonden Flaum an Kinn und Lippe, beugte er sich über die Bücher. Der Sicherheit halber hatte er auch noch in jedes Ohr einen Finger gesteckt. Das war unnötig.

Und Erik blickte in die Glut – –

»Bis ganz die Welt um uns versank –«

Es war Gonne, die endlich die Stille unterbrach. Sie brachte den Abendtee herein. Klare-Bel ließ sich hinter den Samowar rücken: ihre täglich neu genoßne Freude, wenigstens in solchen kleinen Dingen wieder Hausfrau zu sein.

»Heute warst du gewiß froh, Erik, ein so langer Brief von Ruth,« bemerkte sie dabei, »man muß sagen: sie schreibt treulich, – regelmäßig. Aber manchmal einen Zettel, manch mal ein Buch!«

»Ich möchte wissen, warum du ihr noch nie geschrieben hast, Jonas?« fragte der Vater. »Sie will oft von dir wissen.«

Jonas wurde sehr rot.

»Wovon soll man sich denn schreiben? Ich habe genug zu tun,« murmelte er über seinem Teeglas.

»Für so junge Menschen ist das Briefeschreiben auch nichts,« meinte Klare-Bel, »Ruth ist doch nicht unbegabt, nicht wahr? Und sind ihre Briefe nicht ganz entsetzlich nüchtern, Erik?«

»Nun ja. Wenn sie nicht etwas zu erzählen oder zu beschreiben hat.«

»Beschreiben? was denn? wie ein Berg aussieht, oder was für Wetter es ist, – ein Schneetreiben im Winter, kann sie das nicht seitenlang erzählen? Aber ich finde, dabei erfährt man recht wenig von ihr selbst.«

Erik schwieg. Er fand es auch. Dies Entzücken an der Schilderung selbst des Geringsten, die Hingebung in der Wiedergabe dessen, was sie umgab und was unmittelbar von ihr aufgenommen wurde, – das alles lag neben einer spröden Wortkargheit, wo es ihre Gefühle betraf. Es war nicht Verschlossenheit, – es war Haß gegen das Wort, das ungenügende. Schlechte Verse kritzeln, singen, stammeln, die Augen aufheben, – eh er das nicht wieder gesehen, nicht wieder gehört hatte, war Ruth für ihn wie begraben.

Und wieder schwiegen sie.

Der Teetisch wurde abgeräumt. Nur eine Schale mit Äpfeln blieb darauf stehn. Jonas machte Miene, seine Bücher und Hefte wieder auszubreiten.

Erik hinderte ihn dran.

»Genug!« sagte er, »es ist ganz unmöglich, daß du mit deinen Schularbeiten noch nicht fertig sein solltest.«

»Ich bin's ja auch, Papa. Aber ich wollte jetzt abends noch Russisch treiben. Einer von den Jungens hilft mir dabei in der Freistunde.«

»Ich sehe nicht ein, zu welchem Zweck? Schon im Herbst gehst du ins Ausland. Du wirst ja nicht hier studieren. Wozu also?«

»Es ist sehr nützlich, Papa. In Deutschland kann man jetzt mit russischen Stunden Geld verdienen.«

Erik war unangenehm berührt. »Geld? Mit Stundengeben? Überlaß mir das doch.«

»Erlaube mir's, bitte. Tu ich nicht genug für die Schule?«

»Ja, aber du bist ein entsetzlicher Stubenhocker geworden, Jonas! Bleibst mir zu schmalbrüstig, mein Junge. Flaum am Kinn, aber keine Kraft in den Knochen. Nicht genug.«

»Gesundheit ist der Güter höchstes nicht,« behauptete Jonas mit einem Ernst, der ihm drollig genug stand.

»Aber der Übel größtes ist die Schuld, sie verscherzt zu haben,« ergänzte Erik und fuhr ihm liebkosend über den Kopf; »wenn du öfters mit solchen Zitaten kommst, dann werd' ich dich noch ganz von den leidigen Büchern fortnehmen. Zu einem Bauern in die Lehre geben.«

Damit ging er hinüber in sein Arbeitszimmer.

Ein Stoß Schulhefte mit blauen Deckeln lag schon bereit. Auch allerlei andres, was drängte.

Ihn drängte es nicht. Er schob es zurück.

Darunter lagen Ruths alte Hefte, auch neue Arbeiten, sie schickte sie ihm alle. Ihren Studiengang leitete er vollkommen. Aber alles das war immer noch nicht »Ruth«.

Er nahm eine Mappe von Schreibtisch, in der sämtliche Briefe aus Heidelberg lagen vom vorigen August bis zum heutigen April.

Anfangs lauter Briefe von Frau Römer. Ruth konnte nicht schreiben, sie lag im Fieber. Ein schleichendes Fieber, fürchteten sie. Erik war zur Abreise vollständig fertig gewesen, er depeschierte bereits seine Ankunft.

Da traf ein Telegramm ein, das ihn zurückhielt. Drei Tage später ein kurzer Brief von Frau Römer:

»Ihre Anwesenheit ist nicht erwünscht. Die Trennung würde dasselbe noch einmal ergeben. Ruth muß es lernen, ohne Sie zu leben. Daher dürfen Sie unter keinen Umständen herkommen. Mein Mann meint es als Arzt, ich meine es aber auch – als Frau. Ich habe Ruth lieb wie mein Kind; wollen Sie mir helfen, wie eine Mutter über ihr zu wachen, so halten Sie auf immer aus Ihren Briefen alles fern, – auch das Geringste, – was Sehnsucht wecken könnte.«

Nach einer Woche schrieb Frau Römer:

»Mit unsrer Ruth geht es besser. Aber gestern hat sie uns sehr erschreckt. In ihrem Zimmer steht mein Lehnsessel, mit braunem Leder bezogen; sie wollte ihn durchaus haben, als sie ihn bei mir sah, und sagte dabei bedauernd: ›Wie schade, daß er nicht grün ist!‹

Diesen Sessel hatte sie gestern nacht mitten ins Zimmer ihrem Bett gegenüber gerückt. Als mein Mann noch einmal leise hinein trat, um nach ihr zu sehen, sieht er im Schein

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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