Ruth - Page 54

Bild von Lou Andreas-Salomé
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der kleinen Nachtlampe Ruth aufrecht im Bett, – den Oberkörper weit vorgebeugt, die Augen starr auf den Sessel geheftet, das Gesicht verzückt.

Als sie meinen Mann sah, fiel sie in die Kissen zurück. ›Ach, – nun ist er fort!‹ sagte sie traurig.

Sie war in einer halben Ohnmacht, am ganzen Körper kalt.

Wir haben den Lehnstuhl aus ihrem Zimmer entfernen müssen. Mit den andern Stühlen ›geht es nicht‹, versichert sie.

In aufrichtiger Freundschaft

Irene Römer.«

Bald darauf kam der erste, noch mit Bleistift aus dem Bett gekritzelte Zettel von Ruth selbst. Wenige Zeilen nur, darunter ein Postskriptum:

»Ich glaube, daß die Menschen zaubern könnten, wenn sie wollten.«

In der Mappe befand sich neben diesem kleinen Zettel ein Schreiben von Eriks Hand, – ein vollständiges Briefkonzept, das anfing:

»Mein Herzenskind!

Außer den bekannten zehn Geboten gibt es noch ein elftes, speziell für Dich: ›Du sollst nicht zaubern.‹

In uralten Zeiten nahmen die Menschen, wenn ihre Götter die Wünsche einzelner nicht erfüllten, mitunter ihre Zuflucht zu allerhand bösen Geistern, die sich durch Zauberkunst und Zauberformeln noch beschwören ließen. Das mögen die Menschen aus zweierlei Ursachen getan haben: aus Kleinmut oder aus Hochmut, aus dem mangeln den Glauben, daß im Willen ihrer Götter auch wirklich eine weise, gute Macht über ihnen walte, – oder aus dem Trotz, der es müde geworden ist, zu gehorchen und zu vertrauen.

Du machst es doch nicht ebenso, – gleich viel aus welchem dieser beiden Gründe? Nimmst Dir doch nicht hinter dem Rücken und aus eigner Machtvollkommenheit, was Dir vorenthalten bleiben soll? Rufst doch nicht, wie damals, in der letzten Nacht, einen fremden, bösen Geist, das Fieber, um Dir zu helfen und Dich in eine Wirklichkeit zu entführen, die keine ist?

Du sollst nicht zaubern. Sollst Dich der Wirklichkeit hingeben, die um Dich ist, – ganz, voll Glauben und voll Vertrauen, daß Du in ihr zu Hause bist –«

Hier brach das Briefkonzept ab, die nächsten Zeilen waren ausgestrichen, – wiederholt, und wieder ausgestrichen. Sie waren ihm sichtlich schwer von der Hand gegangen.

Aber die Konzepte mehrten sich, hinter jedem Briefe Ruths folgte eines; Erik blätterte sie ungeduldig beiseite: daß sie da lagen, das besagte genug.

Sein Blick verweilte nur länger, wenn er wieder auf die feine, charakteristische Handschrift Frau Römers traf. Er konnte nie das Gefühl ganz los werden, als ob er mit ihr – oder sie mit ihm? – in einem geheimen, unbewußten Kampf stünde, und doch erquickten ihn diese Briefe. Wenn sie wider Wissen und Willen ein Feind war, so war's ein herrlicher. Einer, wie man ihn sich wünschen soll, um sich mit ihm zu messen.

Um diese Frau wehte es wie helle, reine Luft, – man mußte sich wohl darin fühlen. Und jedes ihrer Worte ein so klarer Ausdruck dessen, was sie warm empfand. Während man las, glaubte man ihre Stimme zu vernehmen, eine heitere, entschlossne Stimme.

Schon wollte Erik die Mappe schließen und an ihren frühern Platz legen, als ihm noch ein Brief Ruths in die Augen fiel. Vor vielen Wochen geschrieben und durchaus nicht gefühlsmäßigern Inhaltes als die übrigen, – auch, gleich den übrigen, ohne Anrede und ohne andern Abschluß als »Ruth«. Aber auf der letzten Seite, da hatte sie sich verschrieben: da stand auf einmal »Du«, anstatt »Sie«.

Sie hatte den kleinen Verräter energisch ausgestrichen und das ihm beigefügte Zeitwort umkonjugiert. Aber am Rande der Seite war's treuherzig bekannt: »Ich habe ›Du‹ gesagt, ich wollte aber ›Sie‹ sagen.«

Erik schaute nie in die Mappe hinein, ohne an dieser Stelle hängen zu bleiben, – und er schaute oft hinein.

Diese eine Silbe war ihr einziger wirklicher Gruß an ihn. Mündlich würde sie sich schwerlich je versprochen haben. Sie bedurfte dessen nicht. Sie hatte »Du« zu ihm gesagt an jedem Tage, in jeder Stunde fast mit Blick und Ton und Miene. Jetzt erst ward es zum verständlichen Wortlaut, unwiderstehlich: ein Ersatz für alle wortlose Nähe.

Erik schob die Briefe von sich, er wollte arbeiten. Arbeiten, – nur nicht dieses unnatürliche, vollständig entnervende Hinleben in Gefühlen und Gedanken, – dieses unsichere Tasten ins Blaue, in die Ferne, mit dem Verzicht darauf, zu handeln. Wie leicht war dagegen selbst die Zeit von der Trennung für ihn gewesen: innerste, angespannteste Aktivität bis zur letzten Sekunde, aufs höchste gesammelte und gesteigerte Kraft: für Ruth.

Nun der Rückschlag. Nachlassen, – gehn lassen. Es macht ihn fast krank.

Und er arbeitete Stunde um Stunde, bis eines der blauen Schulhefte nach dem andern mit den notwendigen roten Tintenstrichen durchsetzt war.

Dann erst lehnte er sich müde in seinen Stuhl zurück. Und wieder las er, mit immer neuen Kommentierungen, an der einzigen Silbe »Du«.

*

Der nächste Tag brachte draußen die erste echte Frühlingsstimmung. Ein tiefblauer Sonnenhimmel strahlte über den kahlen Bäumen.

Noch zog sich am Rande der Kieswege, schmal und vergraut, eine durchlöcherte Schneekruste hin, aber aus dem toten Gras hoben sich schon frisch die saftgrünen Hälmchen, und an den Birkenzweigen hingen seit Wochen, geduldig wartend, längliche braune Knospenzipfel. Der Wiesengrund hinter dem Garten stand ganz unter Wasser und spiegelte blinkend Himmel und Sonne wider, vereinzelte zersplitterte Eisschollen trieben darin umher.

Erik hatte, wie jetzt fast immer, den ganzen Tag in der Stadt zu tun, neben seinem Schulunterricht noch den freiwillig erteilten, den er, mit sich daran anschließen den Vorträgen, in diesem Winter durchführte, teils in seiner Stadtwohnung unter Beteiligung Erwachsner, teils in einem leerstehenden Klassenzimmer der Mädchenschule.

Wer sich hier einfand, gehörte ebenfalls nicht mehr der Schule an, oder doch fast nicht mehr. Man konnte es den Gesprächen entnehmen, womit ihn seine Zuhörer meistens erwarteten. Es wurde nicht mehr von Phantasieereignissen gesprochen, sondern von Bällen und Gesellschaften und von Anbetern, die wohl nicht mehr in der bloßen Einbildung vorhanden waren. Von Schulangelegenheiten niemals, wenn nicht etwas ganz Sensationelles vorfiel, wie heute morgen, wo ein kleines Mädchen während des Frühgebets im großen Schulsaal umgefallen und liegen geblieben war, – ein Fall von Epilepsie. Es hieß, das bloße Ansehen wirke ansteckend, nichtsdestoweniger hatten die meisten, wie gebannt, auf die Zuckende hingestarrt, die, Schaum auf den Lippen, vor ihnen lag.

Mitten in das Gespräch darüber kam, als die Späteste, und mit einem unterdrückten Gähnen, die hübsche Wjera mit den kecken dunkeln Augen. Sie war seit der Zeit ihrer

Veröffentlicht / Quelle: 
Verlag der J. G. Cotta'schen Verlagsbuchhandlung Nachfolger, Stuttgart, 1895

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