Amerika

Bild von Arthur Schnitzler
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Das Schiff landet; ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil...

Der graue Herbstmorgen überschattet Meer und Land; noch schwankt alles unter mir; noch immer fühle ich den unruhigen Gang der Wogen... Aus dem Nebel erhebt sich die Stadt... Neben mir, mit offenen Augen, lebendig, hastet die Menge. Nicht das Fremde empfinden sie; nur das Neue. Ich höre, wie der oder jener vor sich hinflüstert: Amerika – als wenn er sich's nur recht einprägen wollte, daß er jetzt wirklich hier sei, so weit!...

Ich stehe allein am Ufer. Nicht an das neue Amerika denk' ich, von dem ich das Glück zu fordern habe, das mir die Heimat schuldig geblieben – ich denke an ein anderes.

Ich sehe jenes kleine Zimmer, so deutlich sehe ich es, als hätt' ich es gestern verlassen, nicht vor so vielen Jahren. Auf dem Tisch die Lampe mit dem grünen Schirm, der gestickte Lehnsessel in der Ecke. Kupferstiche hängen an der Wand; die Bilder verschwimmen im Schatten. Anna ist bei mir. Sie liegt mir zu Füßen, den Lockenkopf an mein Knie gelehnt; ich muß mich niederbeugen, um in ihre Augen zu sehen.

Wir haben aufgehört zu plaudern; der Abend schreitet weiter, und stille ist's im Gemach. Draußen beginnt es zu regnen, wir hören die Tropfen an die Fensterscheibe schlagen, langsam, schwer. Sie lächelt, und ich beuge mich zu ihrem Munde. Ich küsse ihre Lippen, ihre Stirn, ihre Augen, die sie geschlossen hat. Meine Finger spielen mit den feinen goldenen Haaren, die sich hinter ihren Ohren kräuseln. Ich schiebe sie zurück und küsse sie auf diese süße, weiße Hautstelle hinter dem Ohre. Sie schaut wieder auf und lacht. »Was Neues«, flüstert sie, wie erstaunt. Ich halte meine Lippen fest hinter das Ohr gepreßt. Dann sage ich lächelnd: »Ja, was Neues habe ich entdeckt!« Sie lacht auf, und wie ein Kind fröhlich ruft sie aus: »Amerika!«

Wie drollig war das damals! So toll und dumm! Ich sehe ihr Gesicht vor mir, wie es zu mir ausschaute mit den Schelmenaugen, und wie von ihren roten Lippen der Ruf erschallte: »Amerika!« Wie haben wir damals gelacht, und wie hat mich der Duft berauscht, der aus ihren Locken heraus über unser Amerika strömte...

Und bei dieser großartigen Benennung blieb es auch. Zuerst riefen wir es immer aus, wenn von den unzähligen Küssen einer sich hinters Ohr verirrte; dann flüsterten wir es – dann dachten wir es uns nur mehr; aber immer kam es zum Bewußtsein.

Eine Fülle von Erinnerungen steigt in mir auf. Wie wir einmal auf einer Anschlagsäule ein großes Schiff abgebildet sahen und, nähertretend, lasen: »Ab Liverpool – An New York – Ab Bremen – An New York«... Wir lachten auf, mitten auf der Straße, und sie behauptete ganz laut, während Leute herumstanden: »Du, wir reisen heute noch nach Amerika!« Die Leute schauten sie ganz verwundert an; besonders ein junger Mann mit einem blonden Schnurrbart, der noch dazu lächelte. Mich ärgerte das sehr, und ich dachte: Ja, der möchte wohl mitreisen...

Dann saßen wir einmal im Theater, ich weiß nicht mehr, bei welchem Stück, da sprach irgendeiner auf der Bühne von Kolumbus. Es war ein Stück in Jamben, und ich entsinne mich des Verses: »– und da Kolumbus auf die Brücke trat...« Anna stieß mit ihrem Arm leicht an den meinen; ich sah sie an und verstand ihren geringschätzigen Blick. Der arme Kolumbus... als wenn der das wahre Amerika entdeckt hätte! Als wir nach dem Theater in einem Weinhause saßen, da sprachen wir viel von dem guten Manne, der sich so viel eingebildet hatte auf sein armseliges Amerika. Eigentlich bedauerten wir ihn. Ich konnte mir ihn lange Zeit hindurch nicht anders vorstellen, als mit trauervollem Blicke an der Küste seines neuen Weltteiles stehend, sonderbarerweise mit einem Zylinder und einem ganz modernen Überzieher, und enttäuscht den Kopf schüttelnd. Einmal zeichneten wir ihn gemeinschaftlich auf der Marmorplatte eines Kaffeehaustisches und fanden immer neue Details. Sie bestand darauf, daß er eine Zigarre rauchen müsse; außerdem trug der große Entdecker auf unserem Gemälde einen Regenschirm, und sein Zylinder war eingedrückt – natürlich – wegen der Meuterer. So wurde Kolumbus für uns die humoristischste Figur der ganzen Weltgeschichte. Wie toll! Wie dumm!...

Und nun stehe ich mitten in der großen, kalten Stadt. Ich bin in dem falschen Amerika und träume von meinem süßen, duftenden Amerika da drüben... Und wie lange das schon her ist! Viele, viele Jahre. Ein Schmerz, ein Wahnsinn kommt über mich, daß so etwas unwiederbringlich verloren ist. Daß ich nicht einmal weiß, wo eine Kunde von mir, wo ein Brief sie treffen könnte – daß ich nichts, gar nichts mehr von ihr weiß...

Weiter hinein in die Stadt führt mich mein Weg, und mein Gepäckträger folgt mir. Ich bleibe einen Augenblick stehen, schließe die Augen, und durch ein seltsames trügerisches Spiel der Sinne umfängt mich derselbe Duft, wie er an jenem Abend von Annas Locken über mich wehte, da wir Amerika entdeckten...

Veröffentlicht / Quelle: 
Sterben. Fischer Taschenbuch Verlag, 2000

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