Ich höre, die Axt hat geblüht,
ich höre, der Ort ist nicht nennbar ...
Paul Celan, Schneepart
Niemand, niemand erwartet mich. Das Haus ist leer. Es ist so still darin geworden. Totenstill. Gestern, heute: leer. Mama! ‑ Ich bin in die Schule gegangen. Ich hielt es daheim nicht mehr aus. Alle Zimmer sind tot. Überall ist es totenstill. – Ich bin in die Schule gegangen, als sei nichts geschehen. Es war ein Versuch. Max ist ganz allein. Er frisst nicht mehr. – Seit gestern ...
Alle starren mich an. Ich will aufstehen und fortgehen. Aber es geht nicht. Meine Beine sind gelähmt. Sie kichern. Sie lachen mich aus. Sie machen sich lustig über mich. Niemand sieht, dass etwas Furchtbares geschehen ist. Ich habe nicht aufgepasst. Ich habe nichts verstanden. Ich begreife den Sinn der Wörter nicht mehr. Was hat Frau Becker gesagt? – „Marie!“ – Mein Name. Jemand hat meinen Namen gerufen! Mich gerufen! ‑ Mama? – „Geht es dir nicht gut, Marie?“ – Frau Becker! Sie schaut zu mir her, bewegt die Lippen. Aber ich bin taub. Seit vorgestern Nacht. Ich verstehe sie nicht, kein einziges Wort. Niemand erwartet mich. Das Haus ist leer. Nur Max ist noch da. Ganz allein. Und frisst nicht. – „Marie, es ist besser, wenn du nach Hause gehst und dich ins Bett legst. Sicher hast du Fieber. Deine Wangen sind scharlachrot. Ich rufe nachher deine Mutter an und frage sie, wie es dir geht.“ – Nei‑ei‑ei‑ei‑ein!!!! Nicht anrufen! Mama ist ...
... nach Hause? Ja, ich will nach Hause. Max ist ganz allein und frisst nicht. Mama ist fort. Und Papa? – Niemand erwartet mich.
Ich stehe auf, gehe langsam zur Tür. Meine Beine zittern wie das Silberlaub der alten Kopfweide am Ende des Gartens, wenn ein Wind sie erschreckt hat. –
„Marie, dein Rucksack!“ Sie lachen wieder. Ich tappe zurück und hebe meinen Rucksack auf.
Meine Beine gehen mit mir fort. Ganz von allein: Tür. Korridor. Schulhof.
Bei Grün gehen, bei Rot stehen. Die Ampel zeigt Rot. Ich kann nicht warten. Vielleicht ist Mama heimgekommen. Und Max ... Max ist ganz ... Ein Auto bremst mit quietschenden Reifen.
„Bist du farbenblind? Kannst du nicht aufpassen? Alles in Ordnung mit dir?“ –
Ich bin in die Schule gegangen, als sei nichts geschehen. Es war ein Versuch. Seit vorgestern bin ich taub. Ich will nichts mehr hören: keinen Streit, keine lauten und keine leisen Stimmen. Keine Flaschen, die klirrend am Boden zerschellen. Kein Holz, dass gegen die Wände poltert. Kein Blut. Ich will kein Blut mehr sehen. Ich lebe in einem kleinen Zelt aus milchfarbenem Zellophan. Das Zelt ist unsichtbar, aber nichts und niemand findet den Weg zu mir: kein Wort, kein Mensch. Ich gehe mit meinem Zelt durch die Straßen, als sei nichts geschehen. Niemand hält mich auf. Alles in Ordnung!
Niemand erwartet mich und niemand hält mich auf. Max vielleicht ... Ich schließe die Haustür auf. ‑
„Mama ..? ‑ Mama!?“ Max läuft mir entgegen und schaut mich traurig an. Ich lasse Max in mein Zelt. Wir setzen uns in den großen Ohrensessel, der Oma und Opa gehörte, als sie noch lebten. Ich kraule Max das Fell. Dann schlafen wir ein. Das Telefon schellt. Max stupst seine feuchte Schnauze an meine Wange. Ich halte mir die Ohren zu. Seit vorgestern bin ich taub. Ich fürchte mich so sehr: vor bösen lauten Stimmen und vor bösen leisen Stimmen ‑ flüsternde Stimmen, die mir etwas ins Ohr raunen wollen: In einem dunklen, dunklen Wald, das wohnt ein dunkler, dunkler ...
Ich nehme die Finger aus den Ohren. Es hat aufgehört zu klingeln. Aber wir können hier nicht bleiben, Max und ich. Nicht in diesen toten Zimmern, in denen die bösen lauten und die bösen leisen Stimmen lauern, um in der Nacht über uns herzufallen.
“Weiter, Max! Nun komm doch endlich! Lass dich doch nicht so zerren!“
Niemand erwartet uns; niemand denkt an uns. Das Haus ist leer. Gestern. Heute. Vorgest... Max frisst nicht mehr, und ich bin taub und gehe mit einem Zelt spazieren. Niemand hält uns auf; niemand wundert sich über uns; niemand ahnt, dass etwas Schreckliches geschehen ist. Niemand.
Mama! – Ich kann nicht aufstehen. Meine Beine sind ganz taub. Es ist stockfinster: draußen, im Zimmer, im Flur ... Warum zerrst du mich aus dem Bett, ziehst mich die Treppen hinunter? Öffnest die Kellertür? – Au, mein Fuß! Ich bin in eine Scherbe getreten. Es tut so weh! ‑
„Still, Marie, mucksmäuschenstill!“ – Weshalb presst du mir die Hand auf den Mund? Warum hilft mir denn niemand? Ich bekomme keine Luft mehr!
Alle Zimmer sind leer, leer und sauber: keine Glassplitter, keine Holzscheite, kein Blut. Die Kellertür ist verschlossen. Der Schlüssel ist abgezogen. Er hängt nicht am Schlüsselbrett. Auf der Wunde unter meinem Fuß klebt ein großes Pflaster: Mama! –
Ein Feldweg. ‑ Ich nehme Max das Halsband ab, damit er umhertollen kann, setze mich ins Gras und öffne das Zelt: Vogelgezwitscher, Grillengezirpe, sachter Wind. Es riecht nach Huflattich und frischem Gras.
Ich schaue mich vorsichtig um: kein Mensch weit und breit, keine quietschenden Autos, keine Flaschen, kein Holz, kein Blut, keine Stimmen. Niemand. ‑
Ich schließe die Augen. Ich bin sehr müde. Die Sonne streckt ihre warmen Fühler durch die offene Zelttür. Sie fallen auf mein Gesicht.
Wenn Mama morgen nicht heimkehrt, dann ...
Kommentare
Berührt mich sehr.
LG, Susanna
Danke, liebe Susanna, ich habe diesen Text tatsächlich aufgrund eines frühkindlichen Erlebnisses geschrieben, das sich aber nicht gar so schlimm ereignet hat.
Liebe Grüße,
Annelie