Sehr vorsichtig wage ich einen ersten Blick durch die Rima palpebrarum (Lidspalte). Hat sich etwas verändert? Fühle ich mich verknöcherter, debiler, verwelkter oder gar noch heftiger dahin siechend? Es ist der Morgen meines 66. Geburtstages. Und der erste Eindruck ist entscheidend: Was hat sich verändert, im Vergleich zum gestrigen Status? Ich kann nichts bemerken, stehe, wie stets, entmutigt auf. Mir ist es wichtig, bereits beim Aufstehen eine deutliche Entmutigung an den Tag zu legen. Dann habe ich das schon mal hinter mir. Kann den restlichen Tag über, gegebenenfalls, neuen Mut schöpfen. Mitunter, das kommt aber selten vor, habe ich dann, zur Nachtruhe, mehr Hoffnung und Mut für den kommenden Tag im Bauch als beim Aufstehen. Es ist heute, zunächst, so wie alle Tage. Ich finde den linken Pantoffel nicht auf Anhieb, muss unter das Bett langen, tapse dort mit der Hand herum, erreiche ihn nicht. Und, wie an jedem Morgen, muss ich mich flach hinlegen, um ihn dann letztlich, tief unten im Niemandsland, unter meinem Bett, zu entdecken und zu ergreifen.
Ein Hausschuh-Wichtel versteckt ihn Nacht für Nacht dort unten, im Land der Staub- Mäuse und der, auch bei Tageslicht, unwirklich wirkenden Gegenstände: Ich sichte den lange vermissten schwarzen Nintendo 3DS XL Touch Screen Stylus Pen, eine halbe Mandarine, ein Fizzy PEZ Bonbon, umhüllt von Staub, 2 Erdnussflips und den linken Hausschuh. Den erfasse ich, schlage damit ein paarmal auf den Boden, damit die Staubschicht sich löst, und sinniere darüber, welch sonderbare Namen solch ein Hausschuh hat: Schlappen, Latschen, Puschen, Pantinen, Babuschen, Pampuschen, Schlorren oder Schlurren; österreichisch: Schlapfen, Schluffen oder Patschen. Heiter machen diese Wörter, ja, sie erzeugen Heiterkeit. Versuchen Sie einmal, das Wort Pampuschen 3 - 4 Minuten lang ständig im Kopf zu wälzen. Sie werden sehen, das Wort hat danach absolut jede Bedeutung verloren. Versuchen Sie´s mit Pampelmuse oder mit frappierend, Hanswurstiade, Mummenschanz oder ‘putzwunderlich’. Suchen Sie sich für jeden Tag ein wunderliches Wort, das Sie den lieben langen Tag über im Kopf behalten. Das legen Sie bereits am Abend bereit. Am Morgen dann muss oder sollte es das erste Wort sein, das Sie aussprechen oder denken. Es wird Sie stark erheitern, glauben Sie mir. Meines war, extra für den Geburtstag, „ridikül“. Schokant war meine erste Wahl, ich entschied mich dann aber, mit Blick auf mein bisheriges Leben, folgerichtig für ridikül.
Beim Morgenkaffee klopft es an die Tür. Ich schlurfe träge hin, aber es ist niemand da. Allerdings lehnt eine CD, anscheinend selbstgebrannt, an der Wohnungstür. Ein Name, mit Edding, ist darauf vermerkt: Jürgens. Und: 66. Keine Ahnung, was ich nun davon halten soll. Ich lege die CD ein. Dieser ominöse ‘Jürgens’ singt mir ein flottes Ständchen zum 66. Geburtstag, sehr passend. Eine mir unbekannte Melodie.
Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an
Mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran
Mit 66 Jahren, da kommt man erst in Schuss
Mit 66 ist noch lange nicht Schluss
Ich erinnere diesen Herrn Jürgens jetzt. Er heißt Curd mit Vornamen und trug stets Morgenmäntel, man nannte ihn auch den „normannischen Kleiderschrank“. Wusste nicht, dass er auch gesungen hat. Ich glaube, ich hatte ihn einst in einem Kino-Film gesehen, zusammen mit Heintje oder Roy Black. Keine Ahnung. Mein Gedächtnis...
Schon seit einigen Monaten ist mir das aufgefallen. Es lässt mich immer öfter total im Stich. Da bist du unterwegs zur Küche, kommst dort an und stehst ratlos herum. Was in aller Welt suche ich hier? Warum bin ich vom gemütlichen Sessel hoch, um in die Küche zu gehen? Retour zum Sessel. Kaum sitze ich, fällt mir ein, dass ich dringend ein Getränk brauche. Ab zur Küche. Dort angekommen, frage ich mich, was mich, in aller Welt, dazu getrieben haben könnte, den herrlichen Sessel zu verlassen...
Jemand im 8-Parteien-Haus hat mir eine Curd Jürgens-Nummer auf CD gebrannt. Ich hatte das Lied noch nie zuvor gehört. Es schien mir relativ passend zu meinem 66. Geburtstag zu sein, also dankte ich im Geiste diesem netten Menschen. Corona bedingt war die Übergabe an der Tür nicht möglich. Immerhin, ein Geschenk. Gehen wir also diesen besonderen Tag an. Was ist in der Geldbörse? € 4,21 und ein Knopf. Schön. Damit müsste sich doch etwas anfangen lassen.
Ich gehe zu meinem Lieblings-Discounter, „In Petto“. Der hat diese netten, grellroten Aufkleber, „30 %“. Kurz vor Ablauf des MHD klebt ein solcher auf den Lebensmitteln. Besagt: 30 % Nachlass. Von einem Saint Albray nehme ich den Aufkleber ab, packe ihn dafür auf eine Packung Hofmaier, Wiener Würstchen, 1000 g, zu € 5,99. An der Kasse zahle ich, erwartungsgemäß, € 4,19. Das Geburtstagsessen ist gesichert. So herrlich knackig, zart und geräuchert. Ein wirklich guter Deal. Jede Menge Würstchen sind also da. Aber wo bleibt das alkoholische Getränk? Ich will auf mich anstoßen. Es ist doch mein Ehrentag. Wie kann man denn überhaupt mit sich selbst anstoßen? Schön, dass mein Portemonnaie noch gut gefüllt ist. 2 Cent und 1 Knopf. Soll bloß keiner behaupten, ich sei am 3. Mai schon abgebrannt. Stimmt schon, da ist noch sehr viel Monat für so wenig Geld. Aber, mal ehrlich, kriegen wir alle das nicht immer und immer wieder beeindruckend gut hin? Erstaunlich.
Auf dem Nachhauseweg steht, zu meiner Verblüffung, auf einem der grauen Kästen am Gehweg, ein 3er-Pack Underberg Kräuterbitter, 44 %. Und tatsächlich, eines der kleinen Fläschchen ist noch unberührt. Hab ich ein Glück! Würstchen und Underberg. Mal nachdenken... Einen besseren Geburtstag hatte ich schon seit Jahren nicht mehr (und es ist ja erst 15 Uhr!). Schmunzelnd bemerke ich noch das Graffito auf diesem Verteiler-Kasten. Es ist ein Mensch ohne Mundschutz, unter vielen anderen mit dem obligatorischen Mundschutz. Eine Sprechblase fragt: „Fatalist?“ Finde ich echt funny.
Zuhause angekommen schaue ich in den Briefkasten. Echt jetzt? Ich habe Post! Das war schon gut 14 Tage nicht mehr der Fall. Die Christliche Schriftenverbreitung, und zwar direkt aus Hückeswagen, hat an meinen Geburtstag gedacht. Wie nett. Ich lese: „Wer wird uns scheiden von der Liebe des Christus? Drangsal oder Angst oder auch Verfolgung oder Hungersnot oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?“ Ich mag dieses Wort, Drangsal. Das hat was. Erinnert an Notdurft. Irgendwie. Die freundlichen Leute aus Hückeswagen sorgen sich um mich, den jetzt 66jährigen. Sie haben daher auch den Titel der Broschüre diesen schweren Zeiten angepasst: >Corona und die Angst<.
Vor Ninja-Kriegern mit Schwertern habe ich eigentlich keine Angst. Auch entblöße ich mich selten, nächtens im Park, völlig entkleidet unter dem Trenchcoat. Ja, Verfolgung (Stalking), das ist ein Thema. Bleiben noch Drangsal und Hungersnot. Aber ich habe ja die fette Packung Wiener Würstchen vom guten alten Hofmaier. Und gegen diesen hartnäckigen Schweinehund, die Drangsal, sollten eigentlich die 44 % von Underberg erfreulich gut helfen. Ach ja, diese peinvolle Bedrückung... Qualvolle Leiden, all diese Kalamitäten des Lebens, all die Unbilden und das Dilemma. Einerseits willst du stets weiter und weiter Luft einsaugen, um sie hernach wieder auszustoßen, andererseits, leider, bist du auch oft genug genau dieses Lebens immanent überdrüssig. Dilemma!
Daher ist meine Standard-Antwort auf die Frage: „Na, wie geht´s, was machen Sie so gerade?“ stets: „Ich versuche, gleichmäßig ein- und auszuatmen!“ Jetzt die fette Fete und zuvor die Schlemmer-Orgie.
Nach dem 8. Wiener Würstchen trinke ich, in einem Haps, den Underberg. Satt, ein wenig angekokelt vom Kräuterbitter, entzünde ich die Zigarre, die ich für genau den Tag heute aufgespart hatte, seit meinem 60. Geburtstag anno 2014. Schmauchend, sehr zufrieden, sitze ich in meinem Lieblingssessel und lasse es mir gut gehen. Noch einmal höre ich Curd Jürgens, stelle ihn mir vor, verschwitzt im Morgenmantel, immer seitwärts ins Publikum zahnend. Ach ja, dieser normannische Kleiderschrank. Schön, so schön klingt mein Geburtstag aus. Ich sehe mir spät in der Nacht noch einen alten Film an, Volker Schlöndorffs „Blechtrommel“, Director´s Cut, mit gut 20 Minuten mehr und der russischen Orgie mit Rasputin. Was den „Director’s Cut“ jedoch lohnt, ist die politische Zuspitzung und der größere surrealistische Touch. Viel mehr Irritation und mehr Momente, die den kaschubischen Ton konterkarieren. Ich danke der ARD für die 155 Minuten aus 1979. Zufrieden gehe ich um 4:30 Uhr ins Bett. Ich stelle mein Paar Puschen so ab, bevor ich ins Bett krabbele, wie ich es jede Nacht mache. Der linke Pantoffel steht einträchtig neben dem rechten. Wenn ich den linken nun also morgen früh wieder unter dem Bett auffinde, dann soll mich doch das Mäuslein mal so richtig in den Allerwertesten beißen. Das Leben: Ein einziges Rätsel. Ich bin 66...
Mein Traum in dieser Nacht war sehr verworren. Ein Samurai bekämpfte mich mit einem beeindruckenden Schwert. Ich sollte Kontakt nach Hückeswagen suchen. Es wird sicherlich von Vorteil sein, mit diesen ‘wissenden’ Menschen Kontakt zu haben. Mein Wort für morgen: Schnurrpfeiferei.