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weckte sie noch vor Sonnenaufgang. Sie staunten, denn wo gestern noch ein Herd mit dem Topf darauf gestanden hatte, gewahrten sie nun eine aus Farnen geflochtene Wiege, und die fleißigen Spinnen hatten einen weißen Schleier drumherum gewoben. Sie gingen leise heran, und ihre Gesichter hellten sich auf, als sie den Säugling erblickten. „Ach, ist das ein schönes Kind“, befanden beide. „Aber eines haben wir vergessen“, gab die Hexe zu bedenken. „Was denn?“ erkundigte sich der Zauberer. „Na, du charmanter Zauberer, wenn auch, wie du lobtest, ich nur anders schön bin, wie soll ich es säugen, denn mein Busen ist trotz seiner anderen Schönheit nun mal leer.“ Magus Magicum aber beschwichtigte sie, „ich finde schon eine Lösung.“ Und da Zauberer alles wissen, was irgendwo geschieht, wußte Magus Magicum auch, daß Wilhelma Widder zu dieser Stunde sich ihrer Kinder glücklich schätzte. Also trat er vor sie hin und frug, ob sie Lätitia säugen würde. Wilhelma Widder stimmte zu, wenn er derweil auf ihre Kinder achten würde. Aber Magus Magicum schlug ihr vor, mit ihren Kindern aufs Schloß zu kommen, dort wären sie sicher. Und so geschah es dann auch. Lätitia wuchs heran, und der Eltern Herzen gingen über vor Glück und Stolz. Als Maga Magica eines Morgens ins Kinderbettchen schaute, rief sie den Zauberer herbei, „sieh dir das an.“ Aus der Stirn des Kindes ragten zwei Hörner, wie sie dem Widder gebührten. „Sie hat eben Widdermilch getrunken“, erklärte der Zauberer, „sieht doch schön aus. Findest du nicht?“
„Wundervoll.“
„Märchenhaft.“
„Zauberisch.“
„Hübsch.“
„Entzückend.“
„Reizend.“
„Berauschend.“
„Prächtig.“
„Vollendet.“
„Vollkommen.“
„Hinreißend.“
„Herrlich.“
Irgendwann fiel den beiden nichts mehr ein, die Auserlesenheit zu benennen. Da schwiegen sie und lächelten, reichten einander die Hände und beschworen Lätitias höchstes Glück. Lätitia wurde größer, und sie tollte des Tags im Schloßhof umher. Als die Zeit herankam, in der Lätitia den ersten Weg zur Schloßschule bestreiten mußte, ging Magus Magicum zum Fuchs. „Du bist ein schlauer Geselle, doch leider auch hinter jungen Widdern her. Dennoch wirst du meine Tochter lehren, und sollte der Appetit dich einmal packen, verwandele ich dich in einen Floh.“ Der Fuchs versprach Zurückhaltung, wenngleich er sich den Mund verbog, als er Lätitia zum ersten Mal sah. Doch ein Floh wollte er nicht werden, mithin lehrte er die ihm Anvertraute. Eines Abends saß Lätitia stumm da. „Warum bist du so still, mein Kind?“
„Ach, lieber Vater, dieses Geweih ist es, ich werde nie einen Kameraden finden.“ Die Hexe ließ ihre Strickarbeit sinken, und der Zauberer schluckte, aber er war doch ein Zauberer und wußte bald Rat. „Komme mit mir, mein Liebes, wir gehen jetzt zu denen, deren Besonderheiten Mißbildungen sind.“ Maga Magica flehte ihn an, dies nicht zu tun, doch Magus Magicum entgegnete, „sie soll erfahren, daß ihre sonderlichen Zeichen keine Verkrüppelung, sondern die Vielfalt der Schöpfung darstellen, dies will ich ihr beweisen.“ Die Hexe ließ sie nur schweren Herzens ziehen. Sie langten in der großen Stadt derjenigen an, deren Besonderheiten Mißbildungen sind, und der Zauberer lauschte in die Masse der Menschen hinein. Bald vernahm er, wonach er suchte, und sie tauchten in einer der Tausenden Wohnungen dieser Stadt auf, sie blieben aber unsichtbar, wie Zauberer und deren Kinder es immer sind. Da saß ein Mädchen an einem Tisch und wollte die Suppe nicht essen. Der Vater schimpfte, sie solle essen, sonst setze es Prügel. Das Mädchen aber aß nicht. Da schlug der Vater auf seine Tochter ein, sie fiel vom Stuhl und brach sich den Arm dabei. Und weil Zauberer auch durch die Zeit fliegen können, fanden sie die Verletzte in einem Krankenhaus wieder und sahen mit an, daß der Arm nicht recht verheilte, sondern krumm verkrüppelt blieb. „Was hat der Mann mit dem Mädchen gemacht?“ frug Lätitia. „Er hat sein Kind geschlagen, und nie mehr wird die Wunde heilen.“ Und weil die Mißhandelte nun mit einem ihrer Arme nicht mehr spielen konnte, lachten andere Kinder sie aus und hießen sie einen Krüppel. „Laß uns von hier fortgehen“, bat Lätitia, und sie flogen auf der Stelle davon. Lätitia betrachtete im klaren Wasser des Schloßteiches ihre Besonderheit, „in allem, was ich bin, sind meines Vaters und meiner Mutter Sehnsucht und Glück, aber auch ihre Not, und darum bin ich anders und liebe sie deswegen.“ Maga Magica und Magus Magicum hörten dies, und Erleichterung stieg in ihren Herzen auf. Fortan hatte Lätitia nichts mehr dagegen einzuwenden, daß der Zauberer und die Hexe ihr bunte Bänder und Schleifen um die Hörner banden, die im Winde flatterten. Nun geschah es, daß der König des Zauberlandes, der ein Blumenliebhaber war, und sein Sohn zu jener Zeit auf Jagd gingen. Der König war nicht mehr der Jüngste, und der Prinz in der Jagd unerfahren, so daß es den Tieren leicht gelang, sich zu verstecken, nur Lätitia, die unbekümmert im Wald spielte, gelang dies nicht, und so stand sie plötzlich zitternd vor des Prinzen Bogen. Der Prinz ließ die Waffe sinken, „wer bist denn du?“
„Ich bin Lätitia, Tochter des Magus Magicum und der Maga Magica.“ Sie versuchte, weil der Prinz doch ein Fremder war, ihre Hörner unter ihrem langen, blonden Haar zu verstecken. Der Prinz stieg vom Pferd, strich ihr das Haar zurück, „warum verbirgst du deine Reize vor mir?“ Lätitias Gesicht lief an zur Röte einer Tomate. „Ich heiße Florian“, verkündete der Prinz, „und lebe mit meinem Vater auf dessen Schloß.“ Der in die Jahre gekommene König wurde von einem betagten Pferd herangetragen, „hast du was gefangen, Florian?“
„Sieh hier, Vater, ein Mädchen, Lätitia heißt es.“ Der König stieg ächzend vom Pferd, „na, da staune ich aber sehr. Du bist ein hübsches Mädchen. Woher hast du denn die schönen Hörner?“
„Die sind mir gewachsen, weil, als ich ein Säugling noch war, ich Widdermilch getrunken habe, so hat mein lieber Vater, meine gute Mutter mir erzählt.“ Der König lachte laut, „du mußt sie nicht verstecken, Lätitia. Gewiß nicht. All das, das nährt, ist es wert, gezeigt zu werden. Ich habe meinen Sohn mit Pflanzensäften ernähren müssen, weil seine Mutter, mein liebes Weib bei seiner Geburt starb, so habe ich ihn Florian genannt, und weil er nun die Pflanzensäfte getrunken hat, ist sein Haar zu Gras geworden.“ Erst jetzt fiel Lätitia des Prinzen grüner Kopfschmuck auf, der unter seinem Hut hervorquoll. Sie bat beide, mit ihr zu gehen auf‘s Hexenschloß. Der Zauberer und die Hexe empfingen und bewirteten sie. „Ist es euch gelungen?“ frug der Vater des Prinzen, „daß sich eure Tochter ihrer Hörner nicht schämt?“
„Da sind wir sicher“, gestand der Zauberer, „ich habe ihr gezeigt, worin der Unterschied zwischen einer Besonderheit und einer Mißbildung besteht, dort draußen!“, dabei sprang er wütend auf, „dort, in der Stadt, in der Besonderheiten Mißbildungen sind, dort habe ich ihr den Unterschied bewiesen“, und dann berichtete er darüber, das sie miterlebt hatten und frug hernach, „und wie hast du deinem Sohn die Scheu genommen?“ Der König lachte, „das ist eine besondere Geschichte. Ich selbst habe nicht viel dazugetan, der Zufall hatte seine Hand im Spiel; du weißt, mein liebes Weib starb bei seiner Geburt, und ich wußte nicht, wie ich den Jungen ernähren sollte. Ich saß, ihn in meinen Armen, im Garten zwischen meinen vielen Blumen, da sprachen die Blumen mich an, ich möge Grashalme auspressen, und mit dem Saft mein Kind tränken. Ich tat es, und der Prinz nahm die Nahrung an, und statt Haar wuchs Gras auf seinem Kopf. Und nun stelle dir vor: als mein Sohn heranwuchs, ruhte er eines Tages auf einer Wiese, da kam eine Ziege daher, und sie, nun ja, sie biß herzhaft in meines Sohnes Kopfzierde. Der Prinz sprang auf, und, Zauberer, ob du es glaubst oder nicht, wir mußten derart lachen, daß uns die Bäuche schmerzten. Später beschwor ich meinem Sohn, er möge mir einen unter denen, deren Besonderheiten Mißbildungen sind, zeigen, der es verstünde, einen anderen, aus sich selbst heraus zu nähren, einen einzigen nur. Da wurde er sehr stolz auf sich und küßte mich, weil die Nahrung, die ihm zuteil geworden ist, eigentlich meine Not dargestellt, ihm etwas hinterlassen hat, woran kein anderer besitzt, sie einen sonderbaren doch nützlichen Sinn in sich birgt, der zudem immer wieder nachwächst, wie eine Quelle immer neu sprudelt, wie ein ewiges Leben. Ja, und daß es ihm, wie er zugibt, angenehm auf der Kopfhaut kribbelt, wenn die Ziege dort grast, ist ebenso ein Vorteil, wie der ersparte Weg zum Barbier.“ Sie lachten, saßen noch lange beieinander und übersahen, daß Lätitia und Florian sich ganz heimlich davonstahlen. Tief in der Nacht wunderte sich die Hexe über des Zauberers Grinsen, „warum grinst du unablässig?“
„Nun, denke einmal nach, meine Liebe, sie trank Widdermilch, er Pflanzensäfte, sie lehrte der Fuchs, ihn, wie der König verlauten ließ, der Adler. Wie, meinst du, mag der Zeiten Lauf ausschauen?“ Da grinste die Hexe, „vielleicht wie ein fuchsschwänziger Vogel.“
„Oder wie ein grün gefiederter Fuchs.“
„Oder wie ein gehörnter Adler mit grünen Schwingen.“
„Gewiß. Aber niemals wie ein Krüppel. Gute Nacht, meine andere Schönheit, und Gott segne dich.“
„Gute Nacht, mein charmanter Zauberer, und Gott segne dich ebenfalls.“ Lätitia und Florian blieben beieinander ein Leben lang im Kreise des Zauberers und der Hexe und natürlich auch des Königs. Sie alle leben heute noch, weil, wie jeder weiß, der Zauber ewig lebt, sie leben ganz in unserer Nähe, aber weil alle diejenigen, für die Besonderheiten Mißbildungen sind, über ihre Hörner und grünen Haaren nicht mehr als lachen würden, sehen alle sie nicht, aber sie sehen alle, wie Magus Magicum alle sah, als er Lätitia bewies, worin der Unterschied zwischen Besonderheiten und Mißbildungen besteht.“
Hier endete der Fuchs mit seiner Geschichte, er stellte sich aufrecht auf die Theke, und um ihn herum standen und lagen viele kleine grünen Flaschen, die vordem dort nicht gestanden hatten. Der Fuchs hob eine heraus, reichte sie Vanessa, „was meinst du, ist in ihr verborgen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Nicht doch. Denke einmal nach. Gestand ich nicht, ich habe nichts zu verkaufen, ich habe nur Schätze, die geschenkt werden können. Und Schenken ist doch eine Sache der Herzen.“
„Ist der Inhalt kostbar?“
„Oh ja, er ist von edler Güte.“ Vanessa wandte sich an Gwendolina, „weißt du es?“
„Ja, mein Kind, ich weiß es, doch dich hat der Fuchs gefragt, er will von dir eine Antwort.“
„Es sind, glaube ich, des Zauberers und der Hexe Herzesssäfte, und die Pflanzensäfte, mit denen der König Florian ernährt hat, darin.“
„So ist es, du kleines Mädchen mit dem wunderschönen Katzenschwanz. Diesen Inhalt kannst du nirgendwo kaufen, aber geschenkt entgegennehmen und richtig verwenden kannst du ihn, denn zählst du doch zu denen, deren Besonderheiten Merkmale sind, die andere verzaubern. Und weißt du nun auch, warum du einen Katzenschwanz hast, dessen du dich nicht zu schämen brauchst?“
„Ja, weil meine Mama es gemacht hat, wie der Zauberer und die Hexe und der König.“
„Ja, Vanessa, so ist das nun einmal, die Liebe ist ein Bündnis, und manchmal zeigt sie sogar, wen sie alle darin einbezieht. Und wer weiß, da doch jetzt deiner Mutter Katzen niemanden mehr stören, verschwindet dein Schwanz wieder?“ Vanessa rollte ihren Katzenschwanz auseinander, ließ ihn durch ihre Hände gleiten und betrachtete ihn, „ach, weißt du, ich möchte ihn doch behalten. Denn kann ich, wenn ich keine Hand freihabe, trotzdem meine Mama anfassen. Wer kann das schon?“
„Wenige, Vanessa, ganz wenige können mit dem, von denen sie lieb gehabt werden, berühren. Ganz wenige, viel zu wenige. Damit zog der Fuchs unter der Theke einen Sack hervor, füllte die Flaschen hinein, verneigte sich, „zum nächsten Jahrmarkt werde ich wieder hier sein, wer weiß, vielleicht werde ich dann wieder eine Flasche oder sogar mehrere verschenken können. So lebt denn wohl.“ Der Fuchs tauchte in der plötzlich anschwellenden Menschenmasse unter, Vanessa aber rief ihm nach, „bist du der Fuchs, der Lätitia lehrte?“
„Ja, der bin ich, Vanessa.“
„Grüße sie von uns, und auch Florian, und den König, und Maga Magica und Magus Magicum, und Wilhelma Widder mit ihren Kindern, ja, und die Ziege auch!“
„Ich grüße sie von euch!“ Ein Passant blieb vor den beiden stehen, ob das Kind von Sinnen sei, warum es hier so herumschreie, frug er Gwendolina. Doch Gwendolina antwortete nicht, sie lächelte, ging mit Vanessa ihres Weges. Vanessa zog den Korken aus der Flasche, „ob wir davon trinken können?“
„Aber gewiß, mein Kind.“ Und beide gönnten sich einen beherzten Schluck, und dann, Mutter und Tochter glaubten sich berauscht von nur einem Schluck des Zaubersaftes, liefen vor ihren Augen, nein, pfiffen vor ihren Ohren tatsächlich alte Pfeifen überall herum. Das letzte, was an diesem trüben Herbstabend von Gwendolina und Vanessa zu sehen war, waren weiße, wippende Schleifchen, die wie Sterne die herabfallende Dunkelheit durchbrachen und festlich leuchteten.