Die Kartoffel - eine Nikolausgeschichte

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von Julia Körner

Tim war sich ganz sicher. Der Nikolaus würde viele Geschenke bringen. Hatte er doch brav alle Stiefel geputzt, sogar die von Mama und Papa. Da standen sie nun aufgereiht im Flur und warteten auf den Nikolaus.
Nur eine Sache ließ Tim keine Ruhe. In dem Land aus dem Papa kommt, aus Tschechien nämlich, dort erzählen sich die Leute, dass der Nikolaus die Kinder das ganze Jahr über beobachtet. Am Nikolaustag so heißt es, lege der Nikolaus all denjenigen Kindern eine Kartoffel in den Stiefel, die in diesem Jahr nicht immer lieb gewesen sind.
Eine Kartoffel?! Nein, so etwas möchte Tim nicht zwischen seinen Schokoladennikoläusen und den erhofften Fußballsammelkarten vorfinden. Tim nahm sich deshalb vor, in dieser Nacht auf den Nikolaus zu warten und ihn zu bitten, doch nicht so streng zu sein. Dass er dem Jonas aus der anderen Klasse immer die Zunge rausgestreckt hat, das war doch nicht wirklich so gemeint gewesen. Und die Lieblingstasse von seiner Mama hat er doch auch nicht absichtlich fallen lassen. Er möchte sich auch wirklich bessern, ganz hoch und heilig würde er das dem Nikolaus versprechen.
Doch als es draußen dunkel wurde, da wurden auch Tims Augenlider immer schwerer. Warum kommt der Nikolaus bloß immer so spät, wenn alle Kinder schon im Bett sein müssen, dachte Tim noch und schlief dann ein.
Als Tim am nächsten Tag aufwachte, rannte er sofort aus seinem Zimmer nach unten in den Flur und zu den Stiefeln. Und da sah er sie sofort. Eine große braune runzelige Kartoffel. Aber sie steckte nicht etwa in seinem Stiefel, nein, sie lag mitten auf den Fliesen zwischen den links und rechts an der Wand nahtlos aufgereihten Schuhen.
Während Tim aufgeregt nach Mama und Papa rief, hatte er bereits eine Idee. Es musste erst einmal erforscht werden, für wen diese Kartoffel überhaupt bestimmt war. Mit seinem Lineal aus dem Schulranzen nahm Tim gleich den Abstand zwischen der Kartoffel und den großen und kleinen Stiefeln Maß. Denn eins war ja klar, es musste ja nicht immer das Kind unartig gewesen sein. Tim war dann auch sehr erleichtert, als er feststellte, dass der große Wanderstiefel vom Papa mit nur drei Zentimetern Abstand der Kartoffel am Nähesten war. Papa, schrie Tim, warum bist Du dieses Jahr denn nicht lieb gewesen?
Als Papa aber beteuerte, dass ihm bestimmt nichts vorzuwerfen war und auch die Mama Zweifel an der Zuordnung hatte, da wollte auch Tim Gewissheit haben. Gleich setzte er sich mit der Mama an den Tisch und schrieb einen Brief an den Nikolaus. Tim hatte noch viel mehr Fragen an den Nikolaus, aber neben der Auskunft, wo denn der Nikolaus genau am Nordpol seine Werkstatt hatte und wer ihm alles bei der Herstellung der Geschenke half, ging es Tim natürlich vor allem um Klarheit, wer denn nun in seiner Familie gescholten worden war.
Ein paar Wochen später lag ein bunter Brief mit Absender St.Nikolaus im Briefkasten. Endlich! Die Antwort vom Nikolaus. Aber die war ganz anders als Tim das erwartet hatte.

Lieber Tim, schrieb der Nikolaus,
ich bin Dir wirklich sehr dankbar. Mir ist ein großes Missgeschick passiert. In Deinem Haus wohnen doch nur liebe Kinder. Das mit der Kartoffel war wirklich nur ein Unfall. Stell Dir vor, da war ein Loch im Jutesack. Ganz unten links in der Ecke, genau so groß, dass eine Kartoffel hindurchfallen konnte. Bestimmt hatte mein Rentier zu großen Appetit gehabt und sich ein Stück aus dem Sack gebissen. Ich hab den Sack gleich zu meinen Helferlein gebracht und die flicken das Loch schon wieder zusammen. Das darf nicht nochmal passieren. Unschuldige Kinder sollen doch keine Tränen vergießen wegen einer verlorenen Kartoffel.
Dein Nikolaus

Nachdem Tim den Brief gelesen hatte, war er unendlich erleichtert. Ein bisschen hatte er sich nämlich schon gefragt, ob er nicht doch die Kartoffel verdient gehabt hätte. Jedenfalls, so stand sein Entschluss fest, würde er dem Nikolaus in Zukunft keinen Grund mehr dafür liefern. Und wahr ist, dass Tim nie wieder eine Kartoffel bekommen hat. Außer natürlich zum Mittagessen. Mit grüner Soße und so. Aber das zählte natürlich nicht. Die hat ihm ja seine Mama auf den Teller gelegt.

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