„Geh deinen Weg, aber wähle ihn mit Bedacht“, rät der Weise abschließend der jungen Frau, die sich ihm gegenüber auf dem Stein niedergelassen hat.
Sie lächelt, keiner hatte bisher derart zu ihr gesprochen. Ihr Vater will, dass sie den Nachbarsohn heiratet, sie jedoch wünscht frei zu sein – frei zu entscheiden, wohin sie geht.
Der Weise ist in ihr Leben getreten, als sie nicht mehr an ein gutes Ende glauben konnte, und hat sie, einfach so, an seinen Erkenntnissen teilhaben lassen. Er war in seinem Leben viel gereist, hatte zahlreiche Menschen getroffen, die verschiedensten Kulturen kennengelernt und dabei immer wieder erfahren: Unzählige Wege führen zum Glück und sie sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Das macht ihr Mut. Dankbar blickt sie ...
Genervt klappe ich das Buch zu, mir ist die Lust am Weiterlesen vergangen. Wieder so eine Geschichte. Es gibt derart viele Geschichten mit Weisen und ihren ach so tollen Erkenntnissen über das Leben. Und stets ist es dasselbe: Ein junger Mensch – oft vom Dorf, dort scheinen sich Weise am wohlsten zu fühlen – steckt aufgrund gesellschaftlicher Ansprüche in einer Zwangslage, sucht Orientierung und bekommt dafür von einem Weisen schlaue Sprüche präsentiert. Leider hilft mir das bei meinem eigenen Problem absolut keinen Schritt weiter.
Weder lebe ich fernab der Zivilisation in einer konservativen Dorfgemeinschaft, noch droht mir eine Zwangsheirat oder etwas dergleichen. Stattdessen wohne ich in der Großstadt, zusammen mit meinem Mann, den ich mir selbst ausgesucht habe, und wir verdienen ausreichend Geld, um angenehm leben zu können. Aus Sicht der jungen Frau und des Weisen bin ich zweifellos vom Leben begünstigt und könnte vollkommen zufrieden sein. Bin ich aber nicht.
Grund dafür ist meine Schüchternheit. Eigentlich mag ich Menschen, doch ich habe eine angeborene Scheu. Vielleicht ist sie auch gar nicht angeboren, sondern erworben, so genau kenne ich mich damit nicht aus. Allerdings kann ich mich nicht entsinnen, jemals nicht schüchtern gewesen zu sein. Mein Mann ist da ganz anders. Er hat keinerlei Probleme, auf Leute zuzugehen und sich mit ihnen stundenlang angeregt zu unterhalten. Und stets kommt er sehr gut bei allen an. Ich dagegen stehe währenddessen nervös neben ihm, lächle krampfhaft und kämpfe mit den Tränen.
So gerne würde ich mich auch ins Getümmel stürzen, mit anderen herumalbern, Spaß haben – aber meine Schüchternheit lässt mich nicht. Immer wenn ich mit Leuten zusammen bin, die ich nur flüchtig oder noch gar nicht kenne, spielt mein Körper plötzlich verrückt. Dann bekomme ich Herzrasen, weiche Knie, mein Magen rumort und ich habe schweißnasse Hände. Versuche ich in dieser Situation, trotzdem etwas zum Gespräch beizutragen, kommt nur ein zitterndes, kaum hörbares Stimmchen zum Vorschein.
Dies gefällt mir natürlich gar nicht, zumal das auch keineswegs meiner Persönlichkeit gerecht wird. So schweige ich lieber, während mein Mann von einer Gruppe zur nächsten wandert, plaudert und lacht, hier einen Kommentar einwirft, dort eine humorvolle Anekdote zum Besten gibt, so lange, bis ich mich irgendwann völlig erschöpft auf die Damentoilette zurückziehe und heulend meine Schüchternheit verfluche.
Aber in Wirklichkeit bin ich überhaupt keine graue Maus, im Gegenteil. Wenn ich mich nur in Gegenwart meines Mannes oder enger Freunde befinde, dann blühe ich richtig auf. Dann bin ich unterhaltsam, lustig und voller Ideen. Mein Mann liebt das an mir. Jedoch, auch wenn es mir schwerfällt dies zu glauben, scheint das nicht der einzige Grund dafür zu sein, warum er mich geheiratet hat.
Als wir nämlich vorhin nach Hause kamen und ich mal wieder vollkommen niedergeschlagen war, nahm mich mein Mann liebevoll in den Arm und flüsterte mir leise ins Ohr: „Danke, dass du mich wieder begleitet hast. Du bist der Ruhepol in meinem Leben. Ich liebe dich.“
Jetzt liege ich im Bett, das zugeklappte Buch noch immer in den Händen. ,Geh deinen Weg, aber wähle ihn mit Bedacht‘, vielleicht ist da doch etwas dran. Ich zumindest hatte mit Bedacht gewählt – ohne dass mir irgendein Weiser einen Rat hätte geben müssen.
Mein Mann ermöglicht mir durch seine Art – trotz meiner Schüchternheit – am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und ich bilde für ihn seinen Ruhepol, so hatte er es gesagt. Mein Mann liebt mich, trotz meiner Schüchternheit. Oder vielleicht gerade auch deswegen?
Der Titel der Kurzgeschichte wurde von folgendem sehr empfehlenswerten Sachbuch entlehnt:
Carducci, Bernardo et al. (2000) Erfolgreich schüchtern: Der Weg zu einem neuen Selbstwertgefühl. Frankfurt a. M.: Krüger.