Gefährlicher Sommer (Teil 16; 2. Hälfte) - Page 2

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von Annelie Kelch

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Blumenstrauß pflücken wolltest. Verstanden, Kora? Konny würde alles Tante Selma erzählen und dann dürfen wir nicht mehr alleine vom Hof.“
„Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich freiwillig noch einmal durch diesen Wald fahre? Und was meinst du überhaupt mit ,Sache'? Ist das, was mir passiert ist, etwa nichts weiter als eine Sache und bin ich Rotkäppchen?“ Kora warf ihm einen empörten Blick zu.
„Wir dürfen dann selbstverstänlich auch nicht mehr alleine ins Dorf, geschweige denn zum Rockkonzert nach Beckum. Und dort willst du doch unter allen Umstän­den hin – um den schnuckeligen Schlagzeuger wiederzusehen, nicht wahr, liebe Kora?“
Hannes zwinkerte mir verschwörerisch zu. In seiner Miene lag nicht allein un­verhohlener Triumph; ich entdeckte darin zu meiner Verwunderung auch Schadenfreude und wusste einen Moment lang nicht, ob ich ihn verab­scheuen oder bewundern sollte.
In Anbetracht dessen, was Kora gerade erlebt hatte, beschloss ich, ihn für eine Weile zu verabscheuen. Sein Mitleid mit Kora schien gänzlich verflogen, und ich wünschte ihm sehnlichst das Masken­monster an den Hals, wenigstens für ein paar gruselige Stunden.
„Also gut, Hannes“, hörte ich Kora plötzlich sagen. Sie schluckte mehrmals. „Kein Wort zu Konny.“
Ich war wieder mal sprachlos.
„Braves, tapferes Mädchen.“ Hannes tätschelte Koras Schulter, als sei sie ein alter Gaul, der gerade einen schwierigen Parcours hinter sich gebracht hatte. Siegesbewusst blickte er in meine Richtung. Ich verzog keine Miene.
*
„Unser treuer alter Konny“, rief Hannes gerührt, als wir uns der Landzunge näherten. „Stell dir vor, deine Schwester hat sich im Wald verirrt, als sie für die gute Leni Mohnblumen pflücken wollte.“
„Seit wann wachsen Mohnblumen im Wald, und seit wann ist Leni für dich plötzlich wieder ,die Gute'?“, fragte Konny misstrauisch und runzelte die Stirn.
„Hannes spinnt doch mal wieder“, sagte Kora und kicherte verlegen; aber ihre himmelblauen Augen blickten unschuldiger als ein Schluck Wasser.
„Waldreben wollte ich pflücken, und zwar für Mutter, nicht für Leni. Und eigentlich habe ich mich auch gar nicht ...“
Ich beobachtete mit Vergnügen, wie Hannes rot anlief und tief Luft holte.
„Mensch Kora, wie siehst du denn überhaupt aus?“, fiel Konny ihr ins Wort. Sein amüsierter Blick glitt über Koras zerrissene Hose und blieb an den immer noch stark geröteten Fußgelenken haften.
„Diese Scheißmücken“, stöhnte Kora und begann sich genau an den Stellen zu kratzen, die Konny mit ungläubigen Augen betrachtete.
„Haben die Mücken etwa auch deine Hose zerstochen?“ Konny wies spöttisch auf den großen Riss unterhalb des Knies. Kora begann zu weinen, riesige Krokodilstränen.
„Ach, da war so ein süßes Eichhörnchen und ich wollte ihm nach in die Fichte. Der Ast, auf dem ich stand, knickte urplötzlich um, und ich fiel nach unten auf den Waldboden. Aua.“
Ihre Stimme klang silberhell und honigsüß, und mir taten plötzlich sämtliche Zähne weh. Kora hielt sich stöhnend den Kopf, als schmerze er bis zur Unerträglichkeit. Das war zu viel für Konny, mochte er nun glauben, was er wollte. Er trat einen Schritt auf sein Schwesterchen zu und nahm sie in den Arm. Kora blinzelte uns unter halb geschlossenen Lidern schelmisch zu, aus Augen, die von künstlichen Tränen verhangenen waren und über das normale Maß hinaus schimmerten und blitzten. Keine verräterische Spur Lügengefunkel lag in ihrem unschuldigen Blick, der mächtig verschleiert daherkam und an das auf manchen Fotos maskenhaft wirkende Antlitz der göttlichen Greta Garbo erinnerte.
Raffiniertes Biest, dachte ich und musste zugeben, dass niemand diese Szene hätte besser spielen können. Dafür hätte sie einen Bambi verdient. Was Schlagzeuger alles bewirken können!
Kora schluchzte inzwischen herzzerreißend. Sie schien einen Hang zur Dramatik zu haben. Ich warf Hannes einen amüsierten Blick zu. In seinem entgeisterten Gesicht stand sekundenlang der Mund offen, bevor er seine Sprache wiederfand.
„Du siehst in der Tat sehr mitgenommen aus, Cousine Kora“, grinste er und schlug mit der flachen Hand auf ihre Pobacken, um den Staub von ihren Hosen zu entfernen.
„Es reicht!“, zischte Kora und schubste ihn weg.
*
„Konny, liebster Vetter“, säuselte Hannes, der heute anscheinend nicht zur Vernunft kommen wollte, „du hast hier ja ganz schön abgesahnt.“ Er betrach­tete zufrieden die Fische, die in den Eimern und Plastikschüsseln lagen. „Und geschlach­tet sind sie auch schon“, grinste er.
„Na ja, Fische haben kaltes Blut. Du alter ,Knurrhahn' wirst es wohl wissen!“, zischte Konny.
„Wir müssen auf der Stelle nach Hause, damit die Lachauer Weiber sie in die Pfanne hauen können“, drängelte Hannes. „Außerdem macht mich die Hitze total verrückt. Und dann diese Mücken! Die Luft ist voll von dem Zeug!“
„Wo ist mein Aal?“, wandte ich mich an Konny. „Auf den ich mich die ganze Zeit gefreut habe, während wir durch ...“
„Hier!, Katja!“ Konny zog den Arm von den Schultern seiner Schwester und zeigte auf ein prachtvolles Exemplar, das in einer der Schüsseln dekorativ um einen gut zwei Pfund schweren Karpfen gewickelt war. „Toller Hecht, nicht wahr?“, fragte er.
*
Der Aal schmeckte in der Tat hervorragend, Christine. Mutti hat ihn ausgenommen und gebraten. Während wir beim Abendbrot saßen und ihn genüsslich verspeisten, mussten wir uns natürlich wieder die uralte Story vom missglückten Fischessen anhören, zum hundertzwanzigsten Mal. Du kennst sie bereits, deshalb brauche ich sie an dieser Stelle nicht zu wiederholen.
„Opa, hast du Helge heute schon gesehen?“, fragte ich.
„Schon ist gut“, sagte Opa und deutete auf die Uhr über dem Küchenschrank. Na ja, Christine, es war bereits sieben. „Heute Morgen lief Helge mir kurz über den Weg“, fuhr Opa nachdenklich fort. „Er wollte nach Lübeck, um Ersatzteile für den alten Lanz-Bulldog zu besorgen. Eigent­lich hätte er längst wieder zurück sein müssen. Die Gnädigste war vor­hin äußerst ungehalten, um nicht zu sagen, geladen vor Wut.“
„Wie gut, dass i c h ihr heute nicht über den Weg gelaufen bin“, sagte Mutti.
Oma warf Mutter Kleve empör­te Blicke zu, die ihr empfahlen, schleunigst den Mund zu halten. Auf die Gnädigste lässt Oma nichts kommen, außer, wenn sie selber mal wütend auf sie ist.
„Ist der Spinat eigentlich schon abgeerntet?“, wandte sich Oma plötz­lich an Opa. „Du weißt doch, dass er in die Saat schießt und wertlos wird, wenn er bei dieser Hitze zu lange auf dem Feld steht. – Wie letztes Jahr, als sich niemand darum gekümmert hat.“ „Keine Sorge, Anita. Alles längst unter Dach und Fach“, winkte Opa lässig ab. „Dafür hat unser Axel gesorgt.“
„Opa, das hört sich an, als ob Knut letztes Jahr nicht aufgepasst hätte. Das finde ich richtig gemein“, begehrte ich auf.
„Nein, Katja“, erklärte Opa beschwichtigend. „Weißt du denn nicht mehr, dass Heiner im letzten Sommer drei Wochen krank war und Knut sich auch noch um das gesamte Milchvieh kümmern musste? Da ging hier so manches drunter und drüber.“
Es klopfte. Wir hatten das Abendbrot fast hinter uns gebracht; es lag nur noch ein Fisch in der Pfanne. Wer den wohl jetzt bekommt, rätselte ich. Leni oder Tante Agnes?
Keine von beiden, liebe Christine. Axel Kröger steckte seinen Kopf durch die Tür. „Ist es gestattet oder soll ich später noch einmal wiederkommen?“, fragte er.
„Komm doch rein, Axel“, rief Opa erfreut. Kröger setzte ich auf den freien Platz mir gegenüber, und ich wusste nicht, wo ich meine Augen lassen sollte.
„Ich wollte mir eigentlich den Fisch abholen, den Katja für mich angeln wollte“, sagte er und blickte fröhlich in die Runde.
„Ach, das ist aber lieb von dir, dass du einen Fisch für unseren neuen Gutsinspektor fangen wolltest, Katja“, säuselte Oma und lächelte mich an. Ich wusste kaum, wie mir geschah.
Von wollen kann keine Rede sein, dachte ich und zeigte auf die Pfanne. „Dieser Fisch dort ist der Rest meines Anteils vom Fang. Den dürfen Sie gerne verspeisen.“
Oma sprang auf, um das gute Geschirr aus dem Schrank zu holen.
„Mach dir bitte keine Umstände, Anita“, sagte Kröger.
„Wie war es denn heute im Wald, Katja. Ist euch irgendetwas aufgefallen?“, schob er hinterher.
„Außer der Tatsache, dass es darin keine Saurier gibt, wie Hannes behauptet hat, nichts Besonderes, Herr Kröger“, sagte ich.
Alle lachten – außer Kröger.
Er sah mich prüfend an.
Ich blickte ihm cool in die Augen und setzte mein Pokerface auf.
Kröger seufzte und griff zu seiner Gabel.
„Da ist Helge ja“, rief Mutti plötzlich und zeigte aus dem Fenster in Richtung Kastanienallee. Helge saß kerzengerade auf Herkules, einem „Schleswiger Fuchs“ mit ziemlich großem Kopf und flachsfarbener Mähne, und ritt auf die Dorfstraße zu. Ich sah ihm argwöhnisch nach. Er trug ein dunkelgrünes, kurzärmeliges Hemd, braune Reithosen und hohe, schwarze Stiefel.
„Damit dürfte die Welt auf Lachau wieder in Ordnung sein, und ich kann nach dem Abwasch meinen Abendspaziergang im Park machen“, lachte Mutti. „Kommst du mit, Katja?“
„Nein danke“, erklärte ich höflich, „ich bin ganz furchtbar müde von der Luft und vom Angeln, und möchte eigentlich gleich auf mein Zimmer gehen.“
„Dann gehe ich eben allein“, gab sich Mutti geschlagen, nahm ihre Strickjacke von der Stuhllehne und wollte sich verdrücken.
„Wolltest du mir nicht erst beim Abwasch helfen, Magda?“, erkundigte sich Oma mit scharfer Stimme.
„Leistet Katjas Mutter doch Gesellschaft. Die frische Luft wird euch gut tun, Anita. Und du, Edmund, solltest dich auch ein bisschen mehr bewegen. Unterwegs könnt ihr sogar noch rote Johannisbeeren naschen. Wir haben beim Pflücken einen ganzen Strauch verschont. Katja und ich werden uns um den Abwasch kümmern.“
Ich dachte, ich höre nicht richtig, Christine. Und als Opa dann auch noch seinen Hut nahm und sagte: „Das machen wir Axel, vielen Dank auch. Komm, Anita“, wäre ich am liebsten zur Tür rausgerannt.
Aber ich riss mich zusammen, stand auf und deckte wortlos den Tisch ab.
Kröger schien bereits des Öfteren Omas Hausarbeit übernommen zu haben. Jedenfalls wusste er genau, wo zu finden war, was er für den Abwasch brauchte.
„Möchtest du abwaschen oder lieber abtrocknen, Katja“, fragte Kröger.
„Sie können ruhig schon mal nach den Pferden sehen“, sagte ich. „Geschirrspülen kann ich auch alleine.“
„Wie du meinst. Dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend. Bis morgen, Katja“, verabschiedete sich Kröger und schloss die Tür hinter sich.
Du glaubst gar nicht, wie froh ich darüber war, liebe Christine.

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