Armut sieht man in Rothenburg nicht. Die bayerische Polizei fährt durch und hat ein wachsames Auge auf den Wohlstand. Hierzulande sind ihre BMWs noch grün, nicht blau, wie sonst fast überall. Na, wo Touristen PET-Flaschen in die Papierkörbe schmeißen, sieht man die Pfandflaschensammler mit ihren geblähten Taschen schon auch huschen. Rothenburger Pfandsammler sind sehr alt und scheinen es aus Langeweile zu betreiben oder um mal unter Menschen zu kommen.
Industrie und Arbeitsplätze in der Produktion gibt es in der Region eher wenige. Im Süden der Stadt ist ein großes AEG-Werk. Sonst spielt sich industriell nicht viel ab, obwohl, wie im hohenlohischen Waldenburg, wo es anders zugeht, die Autobahn doch nahe ist. Der seit zweihundert Jahren vernachlässigte Westrand des weißblauen Staats. Genau diese Lage ist der Grund, warum sie das Mittelalter nicht abgerissen haben. Carl Spitzweg hat in Rothenburg gemalt. Die Tür im schmalen Innenhof zwischen den beiden Rathausbauten. Gehen Sie nur hinein in diesen schmalen Durchgang! Es sieht unspannend aus. Fotografieren Sie dennoch! In einem halben Jahr, bei Ihnen zu Hause, ist es ein wunderschönes Bild geworden.
Hinten wieder hinaus aus dem Luftschlauch zwischen den beiden Rathaus-Häusern (eins gotisch, eins Renaissance mit schwindlig hohem Turm) und man befindet sich auf dem Platz, an dem dieser Maler aus Japan Jahre lang seine - vielleicht zu lieblichen, sehr versierten - Rothenburg-Bilder in der eigenen Galerie verkaufte. Weg ist die Galerie. Genug verdient und heim in die Villa am Fuji? Oder tot, wie’s manchen geht. In der Galerie des alten Japaners war voriges Jahr schon ein Damenmodegeschäft gewesen. Gehörte aber auch einer Japanerin. Seiner Verwandten?
Die allermeisten Besucher bewegen sich auf einem T, das von zwei Straßenachsen gebildet wird. Die eine reicht vom Bahnhof über den Marktplatz weg, also am Rathaus vorbei, ganz hinaus nach Westen bis in den Burggarten. Am Markt zweigt der südliche Strang des Ts ab, vorbei am skulpturengeschmückten Baumeisterhaus, am Plönlein, dann weiter bis zum Hegereiterhaus, durch die Spitalgasse bis an die gewaltige Spitalbastei. Unterwegs passiert man das Kriminalmuseum (mittelalterliche Folterwerkzeuge, kostet mehr) sowie mehrere Schneeballenverkäufer.
Schneeballen sind die Rothenburger Spezerei. Mehlig trockenes Teigfetzengeknülle mit viel Puderzucker beworfen. Eigentlich schmeckt es nach nichts, zumindest nicht viel Tollem, immerhin sieht es klasse aus, eine mittelalterliche Mörserkugel aus Teig. Es sättigt ungeheuer und es macht Durst.
Plönlein, ein Plänlein, die kleine Ebene, ist eine Straßengabelung, die jeder schon mal gesehen hat - auf Fotos. Die eine Kopfsteingasse geht links weiter geradeaus, hinten kommt ein Tor, in der Mitte ein Brunnen mit Blumen dran, die Straße rechts läuft den Berg hinab und dort unten dann durch noch ein Tor. Auf sämtlichen Fotos sieht es wie das Märchen aus. In der echten Welt ist es eher tot saniert.
Jetzt nicht träumen beim Anfertigen des Beweisfotos! Sonst wird man möglicherweise tot gefahren. Auf der bisher nur von Fußgängern bevölkerten Straße stehend hätte man schwören können, dass es alles Fußgängerzone ist. Doch Fußgängerzonen gibt es nicht in Rothenburg und an dieser Stelle, wo rechts und links noch Menschen wohnen und Gasthäuser und Geschäfte, meistenteils für altdeutsche Souvenirartikel, sind, gibt es innerhalb der Mauern keine durchgehend befahrbare Parallelstraße. Der ans Stadtrund angefügte „Pfannenstiel“ (in Rothenburg sagt man „Kappenzipfel“) ist schmal.
In diesen winterlichen Frühlingswochen sind die - im ganz Franken (früher eher: Oberfranken) vorgeschriebenen - Kränze aus farbigen Ostereiern am Brunnen aufgehängt. Leere Plastikhülsen. In einer Woche ist schon Ostern. Wenn auch nur in der Theorie. Denn dieses Feuilleton schreiben wir aus dem Jahr 2013, in dem der Frühling Anfang Juni anbrach. Davor keine klirrende Kälte, sondern windiges, verregnetes, graues, kühles matschiges Klima an jeglichem Tag, zweifach vier Tage Sonne und Blütenduft im Mai.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs ist es im Bereich Ost-Württemberg, Hohenlohe, Mittelfranken in vielen dieser Städtlein mörderisch zugegangen. Berlin war weg, das Meiste vom Reich erobert, nur von Böhmen bis Tirol zog sich noch ein Streifen Naziland. Man zerrte die verhungerten Arbeitssklaven aus den KZs, so in benachbarten Schwäbisch Hall, trieb sie in Vernichtungsmärschen gen Oberbayern. Den einrückenden Amerikanern wurden die Buben der Dörfer als letzte Wacht des Reiches entgegen gestellt. Brettheim, gleich dort drüben, dort hinten, gleich nach der Landesgrenze im Westen, in Brettheim erklärten der Bürgermeister und einige Gemeinderäte, man lasse das jetzt, der Krieg sei verloren. Man erlaube nicht, dass SS-Truppen die Jugendlichen des Dorfes, die weiße Fahnen gehisst hatten, hinrichten. Diese Prognose stellte sich in den nächsten drei Wochen als richtig heraus. Aber deutsch Sein heißt, an Ideale glauben. Der Bürgermeister und seine Räte wurden standrechtlich zum Tode verurteilt und exekutiert.
So mancher dieser hübschen Orte, Waldenburg zum Beispiel, Ilshofen, Crailsheim, sie wurden in Klump geschossen, weil der Deutsche keine weiße Fahnen hissen wollte. Rothenburg, Inbegriff der Mittelalterseligkeit, wurde in jenen Tagen seiner gesamten Osthälfte beraubt. Das wird vom Touristenmarketing schweigend übergangen. Die entsprechenden Straßen sind zügig nach dem Krieg mit Wohnhäusern neu bebaut worden. Sie werden von dem erwähnten viel begangenen Touristen-T nicht gestreift.
Die östliche und nördliche Mauer samt Wehrgang ist ein kompletter Neubau. Keiner, der original erhaltene europäische Altstädte kennt und hier mal hinguckt, würde es für alt halten. Jedoch sieht es historischer aus als Köln, Kassel, Mannheim, Pforzheim. Immerhin ist die grandiose Westseite der Stadt, die Kante am Taubertal, stehen geblieben. Und dahinter und darüber die Jakobskirche mit ihren Riemenschneiderfiguren und ihren beiden gotischen Zackenhelmen.
Rothenburg-Besucher sehen dieses Altstadtimitat aus den fünfziger Jahren nicht, sofern sie nicht die Runde auf dem Wehrgang oben gehen. (Anstrengend, weil der Gang manchmal ziemlich hoch oben ist und man mehrfach bei den Toren ab- und wieder aufsteigen muss.) Auch die Italiener, Franzosen und Amerikaner sehen es alle nicht. Wer es hingegen sieht, sind die fleißigen Japaner. Japanische Paare bummeln ganz allein durch die menschenleeren Straßen dieses Viertels. Sie machen Fotos von den Häusern. Jungen Japanern wird die Szenerie eines Deutschlands von 1950 kaum näher als die vor dem Dreißigjährigen Krieg vorkommen. Die jetzige Welt, wie wir sie alle kennen, Japaner Deutsche, sie ist noch nicht so alt.