Autos, die aussehen wie Grießbrei

Bild von Lulamae
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Damals, August oder September Anfang der Achtziger, so in dem Dreh muss es gewesen sein, damals verstand ich nicht, um was es bei dieser Sache zwischen den beiden ging. Meine Mutter steuerte unseren roten R4 über die flimmernde Landstraße, vorbei an Sonnenblumenfeldern, durch den südwestdeutschen Spätsommertag. Meine Schwester Christine, die der Grund für diese Fahrt war, drückte sich ungewöhnlich kleinlaut auf dem Beifahrersitz herum. Sie hatte vor, sich in dem neuen Einrichtungshaus nach einem Bett und einem Schränkchen umzuschauen; für ihre Studentenbude in Karlsruhe, die sie bald beziehen wollte.
Die Eröffnung dieses Möbelhauses einer schwedischen Kette sorgte in unserer kleinen Stadt für allgemeinen Gesprächsstoff. Die Erwachsenen sprachen davon, dass man dort so richtig schicke, dabei aber auch für nicht so gut verdienende Leute erschwingliche Möbel bekomme. Und der etwas komplizierte Selbstaufbau sowie die fast einstündige Anfahrt, seien bei den Preisen auf jeden Fall in Kauf zu nehmen. Die Kinder in der Schule sprachen davon, dass es dort eine Hüpfburg und Fischstäbchen mit Pommes Frites gebe.
Für mich war die weite Anfahrt das Beste. Das Gefühl, meine Mutter in den nächsten Stunden um mich zu wissen, beruhigte mich.
So saß ich zufrieden mit meinen knapp acht Jahren und unserem Cockerspaniel Tolstoi auf dem Rücksitz. Ab und zu kühlte ich mir die Stirn, indem ich sie an seine schwarze nasse Hundenase presste. Tolstoi gefiel das gar nicht. Jedes Mal, wenn ich meine Stirn an seine Nase drückte, hechelte er mir im Gegenzug nach Frolic duftende Geräusche ins Gesicht. Aber da Tolstoi mein bester Freund war, beklagte er sich nicht weiter und ließ es über sich ergehen. Als ich genug davon hatte, schob ich das kleine Seitenfenster nach vorn. Auf einem Feld zog ein Traktor in aller Seelenruhe seine Bahnen. „Ich sehe was, was Du nicht siehst und das ist braun“, sagte ich zu Tolstoi und meinte das Hemd des Bauern und da Tolstoi nicht antwortete, nahm ich seinen Kopf, drehte ihn nach hinten. „Das Hemd meinte ich, Du dummer Hund.“
Endlich reagierte meine Schwester. „Pimpf“, so nannte sie mich immer, „lass Tolstoi in Frieden.“ Sie war wirklich nicht wie sonst. An anderen Tagen wäre sie zwischen den Sitzen nach hinten durchgekrochen und hätte mich gekitzelt, oder sonst auf irgendeine Weise malträtiert. Eine Veränderung an ihr hatte ich schon vor einer ganzen Weile wahrgenommen. Es waren bestimmt schon mehr als zwei Wochen ins Land gegangen, ohne dass sie mich als Trainingsobjekt für neu erlernte Judogriffe benutzt hatte. Normalerweise landete ich täglich mehrfach, mal über den Rücken geworfen, mal direkt über das gestellte Bein, auf unserem Wohnzimmerboden. Einmal landete allerdings mein Kopf an einem Türbalken, was mich für kurze Zeit in die Bewusstlosigkeit beförderte. Der Schreck war groß. Als unsere Eltern abends von der Arbeit kamen, war ich dank jeder Menge Eiswürfelbeutel wieder auf dem Damm und, getreu des Indianerehrenwortes, was Christine mir abgenommen hatte, verschwiegen wie ein Grab.
Ich führte ihren Wandel auf ihren baldigen Auszug zurück.
Um auf andere Gedanken zu kommen, kletterte ich gemeinsam mit Tolstoi über die Rückenlehne in den kleinen Kofferraum des Renaults. Wir sahen nun alles aus ganz andrer Perspektive. Je weiter man in die Ferne sah, desto schmaler wurde die Straße. Waren wir wirklich von dahinten gekommen? Gefährliche Sache, dieses Autofahren auf so schmalen Straßen. Ich nahm mit meinen Fingern Maß. Wie sollte das möglich sein? Dahinten war die Straße so schmal wie meine aus Stanniolpapier selbst gebaute Bobbahn, auf der ich – mangels Bobs – meine Matchbox-Autos fahren ließ.
Unsere sowohl verkehrspolitischen wie auch physikalischen Betrachtungen wurden jäh unterbrochen. Meine Mutter, die zwar um eine tolerante Erziehung, dabei aber im gleichen Maße um das Wohl der Familie bemüht war, pfiff uns auf den Rücksitz zurück. Nach meiner Erinnerung hatte meine Mutter damals ziemlich viel zu tun. Sie musste wieder arbeiten gehen, dabei uns vier Kinder bekochen und noch vieles mehr, was sie alles stets tat. Und dann schien da jetzt noch diese Schwierigkeit mit meiner Schwester zu sein.
Während ich, brav auf den Rücksitz zurückgekehrt, Tolstois Nasenabdrücke am Fenster untersuchte, redete meine Mutter von irgendetwas, was man wegmachen lassen könne, und dass es in Holland einfacher sei.
Ich erkundigte mich, ob Holland nicht das Land sei, wo es die vielen Windmühlen und Tulpen gebe – im Fernsehen hatte ich was darüber gesehen. Nachdem ich keine Antwort bekam, fragte ich weiter nach: „Fahren wir nach Holland in Urlaub?“ Wir hatten noch nie richtig Urlaub gemacht. Manchmal waren wir zu sechst, mit Tolstoi sogar zu siebt, in dem kleinen R4 in den Schwarzwald gefahren; zum Zelten. Tolstoi musste dann zwar aus Platzgründen im Kofferraum reisen, doch auf diesen Fahrten durfte ich ihm dort trotz Sicherheitsbedenken meiner Mutter die meiste Zeit Gesellschaft leisten. Die Überredungskünste meiner Geschwister waren groß. Sie waren froh um jeden Zentimeter mehr Platz auf der Rückbank.
„Nein, Du weißt doch, Dein Vater verdient nicht so viel Geld, dass wir nach Holland fahren könnten“, sagte meine Mutter. Sie reichte mir, den Blick weiter auf die Fahrbahn gerichtet, ein Blatt Papier und einen Filzstift nach hinten. „Ich hab mir ein Spiel für Dich ausgedacht. Für jedes weiße Auto, was uns entgegenkommt, schreibst Du ein Wort mit Schnee, für jedes blaue eins mit Wasser und für jedes rote eins mit Liebe oder Liebhaben.“
„Soll ich nur die ganz weißen Autos zählen oder auch die, die so halb weiß, ich meine, so ein bisschen dreckig-weiß sind, die aussehen wie Grießbrei?“, fragte ich gewissenhaft nach.
„Die unbedingt auch, die sind besonders wichtig“, sagte meine Mutter mit einem Lächeln, das ich nicht sehen, dafür aber hören konnte.
Wir waren inzwischen auf der Bundesstraße unterwegs, auf der uns massenhaft Autos in allen möglichen Farben entgegenkamen; vor allem aber rote, blaue und weiße und verdammt viele nicht ganz weiße.
Meine Mutter erfand zu dieser Zeit oft solche Spiele für mich. Nicht nur Christine, auch Stefanie und Matthias waren um einiges älter als ich.
Obwohl ich kaum nachkam, Schneemann, Liebeskummer, Wasserhahn, Liebeskiend, Liebesschmehrz, Schneetreiben, Schneebesen, Wassertreten, Liebertolstoi, Schneewittchen, Wasseralleskann, Wasserfall, Schneefall, Schneebeln, Liebertee, Liebesgeflüßter, Wasserlassen, Liebesselwud, Schneeflöckchen, Wasseruhr, Liebelle, Schneerökchen, Schneeweißchen, Liebhabenistschön, Schneecke, Wassertreten, Liebhaber, Schneegestöber, Schneellesauto, Wasserwaage, Schneeball, Liebeswan, Wasserleiche zu schreiben, erinnere ich mich, wie meine Mutter zu meiner Schwester sagte: „Heute ist das alles nicht mehr so schlimm. Früher mussten die Frauen noch zu der Engelmacherin gehen.“
In dem Möbelhaus wollte ich nicht zur Hüpfburg. Ich bestand darauf, mit ihnen zusammen die Wege zwischen den unheimlich vielen Dingen und Möbeln zu gehen.

Geschrieben ca. 2002

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