Abgesehen vom Geräusch der Klingel, das ihm zu überhören gelungen war, hatte es dann wieder ein Jahr gedauert, bis er vom Jungen wieder was hörte.
Helmut, der mittlerweile für ein Security-Unternehmen tätig war, kam manchmal eine Woche nicht rein, wenn er Nachtschicht hatte. Hin und wieder machte er auch verbotene Abstecher bei laufender Schicht. Es war Spätwinter, der Mann kam um zehn, Helmut war schon drin. Er setzte sich auf die Lehne der Bank zu ihm. Weiter rechts sah man eine Figur huschen, die jetzt stehen blieb, zu ihnen zu spähen schien, dann abtauchte.
„Da drüben ist einer.“
„Pah, der Sherlock Holmes“, sagte Helmut übellaunig. „Da waren ganz andre Kaliber da heut. Du, einer wird dich speziell interessieren.“
„Aha.“
„Der Alex, der Student, der ist wieder im Land.“
„Alex? Den gibt’s noch? Ist er immer noch am Studieren?“
„Ich nehm’s mal an. Er wohnt immer noch bei seiner Mutter, sagt er. Aber er hat eine Beziehung.“
„Hm, sein Sugar-Daddy hat sich eingefunden.“
„Mit einem Apotheker vom Land ist das. Muss so ein Alter sein, Geld hat er. Grötzingen.“
„Ja auch nicht der kürzeste Weg. Alex hat keinen Führerschein.“
„Der Schanni holt ihn mit seim Daimler, sagt er. Der ist verheiratet. Alex meint, die haben sich auseinandergelebt, die Ehe nur noch auf dem Papier, sie weiß es, dass er schwul ist und den Freund hat, und ist einverstanden, dass sie sich trennen. Kinder hat er auch. Drum muss Alex tun, wie wenn er ihn vom Golfen kennt. Der blanke Witz, der Alex und Golf!“
„Ja, ist aber eigentlich das, was er haben hat wollen. Ein Typ wie en Hetero, der’s gebracht hat zu was. Wo treiben sie’s denn, auf’em Golfplatz?“
„Hab ich ihn nicht gefragt. Weißt du, wer außerdem auch da war?“
„Alfred, auf ein kleines Schwätzchen, später kommt er noch mal durch.“
„Nein, der kommt nicht. Der hat jetzt den Salva, den Mafiosi-Italiener. Du, dein Timo war da.“
„Ah und den gibt’s auch noch. Hab ich Glück, dass ich nicht hier war.“
„Du, der hat jetzt Aids!“
„Wie? Der Timo hat Aids? Oder wer?“
„Er hat’s mir gsagt. Du, mein Gott, der sieht aus. Der ist aufgeschwemmt wie ein Gugelhupf. Den würdest du so nicht mehr wollen.“
„Ich denk, von Aids wird man dünn.“
„Er nimmt alle möglichen Sachen. Er ist voll neben der Kapp. Steht da so rum und dann hampelt er immer, guckt den Boden an, versteht nicht, wenn man was sagt. An der Psyche hat er’s, hat der Alex g’sagt. Er steht unter Drogen. Du, der sieht zum Fürchten aus!“
„Jetz halt! Wer hat gesagt, dass der Timo Aids hat? Er hat das gesagt oder der Alex hat es dir gesagt?“
„Beide haben sie’s gesagt.
„Wie kommen die denn zusammen?“
„Weiß ich nicht. Die kennen sich. Alex ist beim Aids-Verein.“
„Das war ich, der in der Aids-Hilfe war, und jetzt bin ich in der Schwulengruppe. Und da war noch nie ein Alex und nie ein Timo mit Aids. Der Timo hat immer gesagt, dass er keine Schwänze lutscht und sich auf gar keinen Fall ficken lässt. Wie soll er dann Aids haben?“
„So kennst du ihn. Aber bei anderen halt.“
„Ich hab den wochenlang in meinem Bett gehabt und an ihm rumgemacht. Wenn beim Timo sexuell je was geht, ist es erbärmlich.“
„Der wird’s von seinen Drogen haben.“
Sherlock ging vorbei. Der Mann blieb bei Helmut sitzen.
„Drogen! Ab und zu Shit. Er weiß, wie die Spritzen einen ruinieren, hat er gesagt.“
„Mei, hat der mal gut ausg’sehn! Klar war er ein Gauner, aber geil war er schon auch. Und jetzt so zum Fürchten! In ... wie viel Monate sind das? Die beim Aids-Verein haben ein Haus für ihn, sagt der Alex.“
„Wohnprojekt. Da sind die Junkies drin, die müssen aber clean sein.“
Von jetzt an ging der Mann extrem spät zum Park. Er hatte Helmut den Auftrag gegeben, wenn er den Timo noch mal sähe, solle er ihm alles Gute wünschen.
Im Jahr danach hatte Helmut gekündigt bei der Security und fuhr die lange Strecke bis nach Mainz, wo er beim Bahnschutz arbeitete. Unter der Woche hatte er im Männerwohnheim ein Bett. Es wäre nicht für länger und aus seinem Dorf und dem Haus mit der älteren Schwester und ihren Leuten werde er weggehen, sich was suchen in Freindersheim und auch nicht mehr nach Reuenthal in den Park fahren, wo nur Scheintote wären. Über Prag sprach Helmut nicht mehr, auch das Wort Thailand war ewig nicht mehr gefallen.
Der Johannes war in Indonesien gelandet, hatte von dorther wochenlange Perioden, in denen er zurück in sein Elternhaus kommen konnte. Wie immer ging er dann allabendlich ins Batsch und sah irgendwann auch im Park vorbei. Die Johannes-Leier ging wie üblich: „Was ist denn worden aus dem Deutschland! Überall hört man Krise, wenn doch Krise wär, gäb’s hier auch Stricher. Die Prostitution ist das Erste, was mit der Krise aufkommt.“
Obwohl nur noch selten im Park, stand aufs Mal auch der quallige Klemens auf der Matte und hatte nach drei Minuten Johannes hinterbracht, dass Timo jetzt Aids-krank wäre. Dem Johannes schien das noch neu, trotz all der Batsch-Besuche.
„Die arm Sau, die kann eim leidtun. So ein arms Tier, Vatter!“, murmelte Johannes. „Aber, sinn mer ehrlich, dann haben wir das alle g’wusst, dass es mit dem so kommen wird.“
„Wieso das! Er hat bissel gschtricht, Ficken war nie oder wie? Wie war’s bei dir und dem Timo?“
Johannes ächzte schwach.
„Ach du, Urschel. So was fragt man in unserm Alter nicht mehr. Ficken, das ist Schwerarbeit, das darf ich mir schon lang nicht mehr zumuten. Es ist auch gesünder so. Ich werd dem saubern Staat doch die Rente nicht schenken.“
„So isses“, schnurrte Klemens entspannt, „mir ham gnug gschafft, jetzt wird Zeit, dass mir in Rente kommen.“
„Was redst denn du, du bist ja noch jung! Was für eine Rente willst du denn, die Faulenzer-Rente?“, empörte sich Helmut.
„Ich hab meiner Lebtag immer gschafft. Ich schaff doch jetzt au.“
„Was denn schaffst du?“, heulte Helmut.
„Beim Automaten-Freddy.“
„Beim Freddy in Litterkrauch?“
„Nee, am Oberreuterplatz.“
„Bis wann bist da immer drin?“
Den Pfleger Alfred gab‘s auch noch. Die Beziehung zu Salvatore, eben jenem Salva, dem Tobi, Bauwagen-Tobi, über den nie mehr ein Wort gefallen war, einst wie das Hündchen gefolgt war, diese Beziehung des Pflegers war Schnee von gestern. Alfreds Wirkungskreis war mittlerweile eingeschränkt auf den Park. Er sei gekündigt worden, hatte er erzählt, vorerst arbeitssuchend und das Auto hätte er einstweilen stillgelegt, weil der TÜV abgelaufen wäre.
Ein nicht so vertrauter Bekannter, Karlheinz, welchen Helmut hin und wieder den „Gemeindearbeiter“ nannte, weil Karlheinz beim Sozialamt schaffte, was außer Helmut aber keiner wusste, kam auf Timo zu sprechen. Ihn hätten sie ja alle mal gekannt, den Tobi, Micki, Timo und diesen kleinen Kroaten, Mirko, der Mann wusste nicht, wer der war, der fast zu passiv gewesen sei.
„Ach, da hat’s so viel gegeben. Man hat sich verabreden können und dann hat man was unternommen. Ist doch komisch, wie das alles vorbei ist. Ihr seid über den Timo im Bild, nicht?“
Helmut stieß Luft aus.
„Das ist dieser Schwarze, wo im Knast war, wir wissen Bescheid.“
„Schwarz ist er nicht wirklich. Und ob der im Vollzug war, das hör ich zum ersten Mal. Aber der Timo, der hat Aids.“
„Das wissen wir doch schon alles.“
„Um den ist schad. Das war so ein Hübscher. Die Sucht!“
„Wieso, der war doch ein kleiner Kiffer“, fragte Peter.
„Na, da weiß ich jetzt nicht. Man hört so viel, der Timo, der soll nichts ausgelassen haben.“
„Ein durch und durch asozialer Charakter“, schimpfte Helmut.
„Beim Timo bin ich allerdigs schon immer etwas vorsichtiger gewesen. Das hat man sofort gemerkt, dass der Persönlichkeitsstörungen hatte. Sowieso gehört Safer Sex ... Also, Hinweise hatte man schon. Hey, dort drüben steht der Alex und kommt gar nicht her. Ist da was, seid ihr wieder über Kreuz? Ich geh mal zu ihm.“
„Sicher, nimm du den Alex, der muss geschmiert werden, der ist eingerostet.“
Helmut sagte es so spät und so leise, dass der Gemeindearbeiter es unmöglich verstehen konnte.
Es war Herbst. Regen schüttete einem die Scheiben zu. Aus der Bahn hatte der Lehrer sich ein Exemplar von der Reuenthaler Zeitung mitgenommen und fand darin die Todesanzeige.
„Lass los! Lass los! Brich alle Bande entzwei! Dein Geist wird sonst in alle Ewigkeit nicht frei.“
Plötzlich und für uns alle überraschend ist nach kurzer, schwerer Krankheit unser geliebter Sohn, Bruder, Schwager, Cousin und Neffe entschlafen im Herrn.
Timo Jochen Brot
6. November 1971 - 14. September 1997
Inge und Georg Brot, Vanessa Brot, Reuenthal-Kirchhausen
Sebastian und Maria Brot, Reuenthal-Geislingen
Arnold, Bertram, Matthias und Marika Brendel, Kastelburg
Die Beisetzung findet am 19. 9. 1997 um 15 Uhr auf dem Friedhof von Reuenthal-Kirchhausen statt. Von Beileidsbezeugungen am offenen Grab bitten wir abzusehen. Ein Kondolenzbuch liegt auf. Anschließend gehen wir auseinander in aller Stille.“
Timo war tot, dachte der Mann. Hier sitze ich mit meinen einundvierzig Jahren, fett und gesund im Warmen. Und Timo ist tot und fault und wird sein Leben, das er gesucht hat, nie mehr finden.
Sollte man - objektiv betrachtet - die Einschätzung teilen, dass er, der Mann, es jetzt immer noch verdient hatte, weiter am Leben zu sein, wenn dieser Junge, der so dumm gelebt hatte, in Bedeutungslosigkeit und Sinnlosigkeit vergangen war? Nein, das konnte man nicht länger sagen. Es gab für ihn dann auch keine Berechtigung. Aber, wenn wir so ehrlich wären wie der Johannes, dann könnten wir laut sagen: Das war uns doch lieber, dass die Dinge so herum und nicht anders lagen.