Die klassische Lehrermethode geht so: Ein Lehrer hat alles zehn Mal vorher schon unterrichtet (wenn nicht öfter). Und bei sich daheim alles liegen auf Unterrichtsblättern. Dann steht er dort vorn und stellt uns Fragen.
„Was könnte wohl noch eine Motivation sein, dass man arbeiten geht?“
Es stehen fünf Spiegelstriche auf der Tafel und davon sind zwei vom Lehrer vorgesagt worden, weil sich keiner gemeldet hatte, woraufhin er mehrere zwar schon noch direkt angefragt, diese aber eher Dummes geäußert hatten. Der fünfte Spiegelstrich ist eigentlich das Gleiche wie der erste. Deswegen hat das keiner gesagt. Noch längst ist die Tafel nicht voll mit Gekritzel wie in den amerikanischen Filmen.
So geht das in den Unterrichtsanteilen bei der Startrampe zu. Also nur in den Stunden, in denen die Leute nicht im Internet herumsuchen, jeder für sich. Und nicht dann, wenn sie sich gegenübersitzen im Stuhlkreis und innerhalb der Morgenrunde dezent anzudeuten versuchen, dass sie zwar noch genauso nichts zu erzählen hätten wie gestern, dass sie noch keine Stelle an der Hand haben, noch keine Idee ihnen gekommen sei, wie sie demnächst eine finden können, dass sie aber sehr zufrieden mit dieser Veranstaltung sind und es sie auch weiterbringt.
Das mit dem Abfragen einer Spiegelstrichliste, die man selber vollständig kennt, bloß die Teilnehmer nicht, ist bei Frau Henkenhaf öfter der Fall als bei ihm, Herrn Leiser, ihrer Urlaubsvertretung. Leiser ist ein begabter Rhetoriker, Frau Henkenhaf eher die nüchterne Zahlen-Frau. Irgendwie mögen die Leute hier die Henkenhaf aber mehr als ihn. Sie war halt zuerst da; es ist ihr Kurs. Ein wenig zäh und langweilig ist es bei ihr, immer dasselbe, oft werden Leute mahnend aufgerufen, müssen aber gar nichts wissen, denn wenn es niemand weiß, sie weiß es alles. Aufschreiben muss man sich nie etwas. Frau Henkenhaf hat den Stuhlkreis. Bei Herrn Leiser nebenan sitzen die Leute an Tischen, auf die sie ihre Papiere ablegen können.
Unsere Maßnahme ist keine Bildungsveranstaltung, wo man einen Stoff zu kapieren hat, eher eine schonende, nachdrückliche, neurolinguistische Mentalitätsumprogrammierung. Eines schönen Tages wird jedem von uns sein Groschen fallen und er wird sehen, was er alles machen könnte, das er bis heute nie versucht hat. Bös gesagt: Wenn die Leute Monaten gewaltiger Ödnis ausgesetzt waren, stellen sie sich schließlich auf die Hinterbeine, damit sie so bald keiner mehr in so eine Runde befehlen kann.
Herr Leiser kommt schlechter mit der Langeweile bei der Startrampe klar. Herr Leiser ist nicht hier, um sich vor Arbeit zu drücken und Geld mit Floskeln zu verdienen. Herr Leiser will vielmehr jede einzelne Sekunde unter Strom stehen. Herr Leiser will unbedingt gebraucht werden. Herr Leiser wird zum Moses, der auf einen Fels schlägt und die Gletscher im Inneren beginnen zu tauen. Leiser wünscht Leute, die ihm ihr neues Leben verdanken.
Auch Herr Leiser macht in den Kursen seit Jahren immer dieselben Dinge. Die Walt-Disney-Methode hat er öfters angebracht. Dennoch fällt das Wort hier wie nebenbei. So, als würde Herr Leiser sich einer Angelegenheit eben mal wieder erinnern, die er vor Jahren in einer Zeitung gesehen hatte. Und Leute fragen: „Herr Leiser, Walt-Disney-Methode, was heißt das überhaupt?“
Aber hier im Kurs ist alles von einer muffligen, lammfrommen Atmosphäre durchdrungen, sodass die Leute dieses schöne Wort Walt-Disney-Methode zwar hören, ihnen aber nicht aufgeht, dass sie dessen Bedeutung noch nicht kennen. Also fragt niemand nach. Am nächsten Tag ist bei Herr Leiser die Walt-Disney-Methode dennoch Thema seines halben Vormittags. (Der Inhalt der ersten Hälfte war die Morgenblitzlichtrunde gewesen.)
Walt Disney, dieser bekannte Micky-Maus-Erfinder und Kinderfreund, leitete viele Jahre seine Filmgesellschaft und dort gelang ihm ein Trickfilm-Hit nach dem anderen. Warum war das Studio kreativ? Wegen der Walt-Disney-Methode.
Bei Disneys Firma gab es Angestellte, die wurden extra bezahlt, um nach Lust und Laune frei herumzuspinnen. Diese waren die Träumer in den Büros vom Walt Disney. Es gab aber auch noch die Planer. Denen wurde jeder Traum von den Träumern überlassen. Sie hatten Methoden zu entwickeln, wie man ihn verwirklichen kann. Alles sollte machbar werden. Noch eine weitere Gruppe gab es bei Walt Disney, die Realisten. Diese hatten die von Planern entwickelten Pläne für die Verwirklichung der Träume durchzurechnen und je nach dem zu verändern, verschlanken, auch abzulehnen. Damit sich keine der drei Gruppen benachteiligt fühlte, kam im Büro ein gesonderter Vermittler oder Moderator hinzu.
Die Walt-Disney-Methode gestattet es Herrn Leiser, einen Methodenwechsel in den Kreis von der Kollegin Henkenhaf einzubringen. Nämlich sitzen bei ihr alle im Stuhlkreis, sozusagen gleichberechtigt, können sich sehen und direkt ansprechen. Frau Henkenhaf befindet sich immer an derselben Stelle, auch auf ihrem Stuhl. Vorne. Doch Herr Leiser heute, er kann drei Disney-Grüppchen versammeln, Träumer, Planer, Kritiker, Herr Leiser ist unser aller Vermittler, außerdem der, der hilft, während wir sein Disney-Spiel vorbereiten.
Herr Leiser geht herum, beugt sich zu diesem, zu jenem, hört zu, gibt Kommentare. Der heute vorne hockt und an der Tafel schreibt, ist nicht Herr Leiser, sondern sind wir, der Herr Bross. Uns hat Herr Leiser mit dem Amt des Protokollanten betraut.
Herr Leiser setzt sich neben die Gruppen und lässt sie sagen, was an die Tafel muss. Träume, Wege, Kritik. Es darf niemand dazwischen fahren, kommentieren oder bewerten. Alles muss zuerst wertungsfrei festgehalten werden.
Für unser Planspiel gibt Herr Leiser eine Frage aus seinem eigenen Leben vor. Täglich fährt Leiser mit dem Sportrad zur Startrampe. (Darum neulich seine fast terroristisch anmutende Kapuze-Wattejacken-Vermummung: Da war es frühmorgens doch noch ganz schön frostig.) Auf seinem Weg kehrt Herr Leiser, bevor er die Innenstadt erreicht hat, welche er auf der anderen Seite später wieder verlassen wird, bei einem türkischen Bäcker ein, wo sie ihm erlauben, im Sitzen einen Becher Kaffee zum günstigen To-go-Preis zu trinken. Herr Leiser erwähnt nicht, ob er vorher schon gefrühstückt hat und ob er etwa Familie hat. Auf jeden Fall ist Coffee to go ein Bestandteil seiner täglichen Rituale. Deshalb schmerzt ihn, dass der türkische Bäcker neuerdings Pleite gegangen ist und jetzt leersteht.
Unsere Aufgabe ist: „Wo und wie soll Herr Leiser von jetzt ab seinen Kaffee trinken?“
Erst vorhin, am Morgen, sagt Herr Leiser, sei er bei einem dieser Ketten-Bäcker eingekehrt. So ein übliches deutsches Filialgeschäft in einem großen Block unten drin, wo es Brautmodenläden, Ärzte, Steuerberater und ein Hotel gibt. Auch dort erhalte man den Kaffee nicht im Porzellangeschirr, sondern im, wie Herr Leiser es ausdrückt, Eimer. Da drin sind glühend heiße 0,3 Liter. Das hat uns Herr Leiser zwar nicht gesagt, aber wir sind vorbeigekommen und haben es nachträglich recherchiert. Natürlich kann man sich eilig nicht einen so großen Eimer mit glühendem Kaffee eingießen. Man steht und nimmt Schlückchen und merkt, dass dieser Kaffee teurer ist als beim To-go-Türken. 2 Euro, sagt uns Herr Leiser. (Recherchen werden später 1,80 Euro ergeben.)
Wie das Problem lösen? Was träumen unsere Träumer? Der erste der Träumer sagt, soweit das irgendwie möglich ist, am besten gar nichts. Das ist hier im Kurs üblich. Also fängt Herr Leiser eine Weile zu reden und zu träumen an. Dasselbe wird er nachher neben den Planern und den Kritikern auch tun. Wir als Protokollant kommen auf folgende Spiegelstriche:
- gemütlich zu Hause frühstücken, Zeitung, Orangensaft
- Kaffee abgewöhnen
- blau machen, ausschlafen, Kaffee im Garten, Hollywoodschaukel, Springbrunnen, Goldfisch, Kater
Anmerkung: Das mit dem Abgewöhnen ist unwahrscheinlich, weil Herr Leiser nicht nur jeden Morgen die Herfahrt für seinen günstigen Kaffee unterbricht, sondern auch nach der Zehn-Uhr- und wieder nach der Mittags-Pause seinen Becher aus der Kantine mitbringt und zwei Stunden dran nuckelt.
Die Planer sagen:
- günstigster Kaffee der Stadt z. Zt. bei BackWeck, Stadtmitte, 90 Cent
- guter, günstiger Kaffee, Pappbecher auch Imbiss Bahnhof
Die Kritiker kritisieren:
- Leiser soll früher aufstehen, hat dann Ruhe für Weg
- Bahnhof und BackWeck meiden, zu viele Menschen um diese Zeit
- Ist Leisers Bike geschützt, während Leiser Becherkaffee trinkt?
- Radfahren durch die Fußgängerzone ist nicht erlaubt
„Haben Sie das alle gesehen?“, ruft Herr Leiser enthusiasmiert. „Wie so eine Methode hilft, wenn man vor einem Problem steht! Sie müssen drauf achten, dass Sie für die drei Tätigkeiten die Zonen räumlich jeweils trennen! Disney hat verschiedene Büros bauen lassen. Zum Träumen gehen Sie in das eine Zimmer oder machen einen Spaziergang, zum Planen sitzen Sie am Schreibtisch, kritisieren tun Sie es im Wohnzimmer. Alle Ideen müssen völlig frei fließen können. Kritik muss hinterher zwar sein, aber vorher darf Kritik noch nicht sein!“
Wie immer schweigen die Teilnehmer in großem Wohlwollen. Wir hören nicht, welche Konsequenz Herr Leiser aus unserer Disney-Sitzung in seiner Kaffeeproblematik ziehen wird.
Im Anschluss werden die Laptops ausgegeben, weil immer noch nicht alle ihre Daten in der Suche-Site der Jobbörse haben. An dieser Stelle im Text springen wir eine Woche vorwärts, bis wir, da keiner sonst es tut, Herrn Leiser fragen, wie das Kaffeebecher-Problem dann ausgegangen ist.
Ach, er hat den „Blauen Salon“ gefunden. Dort schmecke der Kaffee hervorragend. Herr Leiser lässt sich über Volumen und Preis nicht weiter aus. (Blauer Salon klingt ja nicht billig.)
Blauer Salon? Kennt hier keiner.
„Können Sie nicht kennen, ist ganz neu“, sagt Herr Leiser. „Ganz klein und so hübsch möbliert wie ein Wiener Biedermeierzimmer, dezent, edel, nobel wie eine persönliche Einladung. In einer Gasse nahe am Wasser, eine kleine Einbahnstraße, übersieht man schnell, hat abends auch zu.“
„Ah so! Salon! Jetzt!“, krächzt Herr Störk, dem es schon wichtig ist, dass er immer alles weiß. „Kenne ich doch. Das ist aber für die Studenten.“
„Sag ich ja“, schmunzelt Leiser. „Studenten, da gehöre ich hin.“
Später, bei Recherchen, wird sich zeigen, dass ein Missverständnis vorlag. Herr Störk kannte den „Blauen Salon“ nicht. Er hatte ihn mit dem „Schässlong“ verwechselt, einem Lokal, welches Studenten der Betriebswirtschaft eröffnet haben, nur abends hat das auf. Dort gibt es nur zu trinken und nur aus Flaschen und man ist aufgefordert, sein Essen vom benachbarten Pizza-Boten zu beziehen.
Traum. Plan. Kritik. Dann die Vermittlung.