Der Reine

Bild von Tilly Boesche-Zacharow
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1.)
Es beschien die Sonne den Reinen, der saß und dem Treiben einer Ameise zusah. Sein Fuß war für sie das Hindernis, welches sie geschäftig umkreiste. Sie hatte sich damit abgefunden und vertraute auf die Beständigkeit ihrer Welt.

Um ihr weiteres Verhalten zu ergründen, setzte der Reine seinen Fuß anderswo hin, mitten auf den Weg, den sie frei gewähnt hatte. Verstört und ratlos eilte sie hin und zurück, um sich neue Pfade zu erschließen. Schließlich erstarkten Mut und Glauben erneut in ihr, und sie sammelte für ihre Zukunft Zweig auf Zweig, Korn um Korn. Den Fuß bezog sie in ihre Welt mit ein.

Da dachte der Reine, was für ein törichtes Geschöpf das sei, das immer wieder glaubte, obwohl es hätte längst wissen müssen, dass die Welt in ständigem Wanken befindlich war.

`Ich tue ein gutes Werk,´ dachte er, `wenn ich sie mit einem Schlag von aller weiteren Mühe und Sorge befreie.´

Er erhob sich und zertrat ein unnützes Leben, weil er barmherzig war. Die Sonne trocknete augenblicks das feuchte Fleckchen.

Als man den Reinen fragte, was er an diesem Tage getan habe, anwortete er lächelnd: "Nichts!"

Denn - ein wahrhaft Reiner brüstet sich nicht mit seinen guten Taten.

2.)
Der Reine sprach: „Alles, was ich tun kann, um dich glücklich zu machen, will ich tun!“
Als der Tag kam, da sie klagte: „Ich bin unglücklich durch dich!“ sagte er achselzuckend:

„Was kann ich dafür, dass du andere Vorstellungen vom Glück hast als ich?“

3.)
Der Reine besaß einen kostbaren zinnenen Becher, der täglich mehrmals geputzt werden musste, sollte der Geschmack des Weines sich unverfälscht erhalten.

Da er sah, dass andere aus irdenen Krügen tranken und wenig Arbeit mit ihren Gefäßen hatten, sprach er: „Was soll mir dieser kostbare Becher, da es auch anders geht?“

Er nahm und warf ihn in einen trüben See.

Fortan lebte er so genügsam und bescheiden wie alle Übrigen. Er trank Wasser wie Wein, und darum trank er
Wein auch wie Wasser, und so bescheiden war er, dass er keinen Unterschied zwischen beiden entdeckte.

4.)
Es litt ein Mann an Gleichgewichtsstörungen, der stürzte auf der Straße und wurde überfahren. An dem Schwerverletzten kam der Reine vorbei. Er schüttelte den Kopf und sprach:

„Wie kann man so unbeherrscht sein und einfach da umfallen, wo man anderen Scherereien macht? Ich sehe, du bist am Bein verletzt. Wenn ich dich jetzt ins Spital bringe, werden die Ärzte es dir amputieren, und du bist nur noch ein halber Mensch. Das mir vorzustellen, erweckt mein Mitleid mit dir. Wart, ich helfe dir auf bessere Art.“

Er nahm einen Stein und ließ ihn dem Unglücklichen auf den Kopf fallen. So ward dieser von seinen Leiden erlöst.

5.)
Als der Reine erkannte, dass sein strahlend weißer Mantel befleckt und schmutzig war, nahm er ein neues Gewand und hing es über das alte.

„Es würde von wenig Vornehmheit zeugen“, sprach er, „wenn sich jetzt jemand erdreistete, zu erkunden, was darunter ist.“

Er wusste so gut darüber Bescheid, weil er selber vornehm war und die Fassade liebte, die ihn von Elend und Schmutz trennte. Ein Reiner weiß schließlich, wohin er gehört, keineswegs in die Kloake.

6.)
Als der große Brand in die Stadt kam, versuchte der Reine, jeden dazu zu überreden, einen Beitrag von allgemeinem Wert zu erbringen.

Er sprach: „Haltet eure Stellung, und wenn es sein muss, sterbt wie tapfere Männer, nicht wie Memmen.“

Als man ihn fragte, was er selbst denn zu tun gedenke, erwiderte er: „Ich muss nicht nur meinen Freunden, auch meinen Feinden gegenüber fair sein. Ich gehe fort von hier und biete ihnen dadurch die Gelegenheit, ein wertvolles Leben weniger auszulöschen, als unbedingt erforderlich ist.“

Da erkannte jedermann, dass der Reine genau wusste, was für eine Verantwortung er trug, und dass er bereit war, sich ihr jederzeit zu unterziehen.

7.)
Als der Mordstahl aufblitzte, warf sich das Mädchen, das ihn liebte, vor den Reinen, um ihn mit ihrem Leibe zu schützen.

Es stürzte tot in seinem Blute nieder, während man den Mörder dingfest machte

Man fragte den Reinen, ob er sich für den Tod des Mädchens verantwortlich fühle, und er antwortete: „Nein, absolut nicht. Ich habe sie nicht darum gebeten. Was sie tat, tat sie freiwillig. Weshalb sollte ich mir Vorwürfe machen? Damit würde ich nur ihre Tat schmälern. Soll man Toten nicht ein gutes Andenken bewahren?“

8.)
Der Reine und sein Gefährte stürzten in das Wasser, als der Kahn, mit dem sie gemeinsam ausgezogen waren, kenterte.

Aber sie fanden nur eine einzige Planke, die lediglich einen von ihnen zu tragen imstande war, bis Rettung käme.
„Du bist ein alter Mann“, gurgelte der Reine, „du hast das Leben hinter dir. Es ist nur anständig, wenn du mir den Vortritt auf der Planke lässt.“

Um dem anderen bei seiner Pflicht zu helfen, schlug er ihm auf den Kopf, dass jener versank.

Als man ihn herausgefischt hatte, fiel der Reine auf die Knie, hob lobpreisend die Hände und Augen gen Himmel und sprach: „Wie wertvoll muss ich dir erschienen sein, weil du mich gerettet hast.“

Das Dankgebet erwärmte Gottes Herz.

9.)
Einmal kam der Reine an einem Moor vorbei, aus dem sich nur noch ein Kopf und ein Arm reckten.
„Hilf!“ kreischte der Todgeweihte.

Der Reine sah ihn sinnend an, und nachdem er sich alles gut überlegt hatte, erwiderte er: „Gern würde ich dir helfen, doch es geht nicht. Du wirst mich verstehen, wenn ich dir sage, dass ich schwor, stets rein und sauber an Leib und Seele zu bleiben und mich mit nichts und an niemand zu beschmutzen.“

Damit wandelte er weiter. Der Unglückliche aber, der gurgelnd versank, dachte: `Wahrlich, das ist ein Mensch, der niemals, nicht einmal sich selber gegenüber, wortbrüchig wird, egal, was auch geschieht. Welch eine Größe!´

10.)
Es war Mittagszeit, und gewissenhaft, wie der Reine war, pflegte er da der Ruhe. Draußen wurde Lärm vernehmbar. Jemand schlug gegen seine Tür. `Wie taktlos`, dachte der Reine und legte sich ein Kissen auf das Ohr, denn es widerstrebte ihm, sich grob Ruhe zu verschaffen. Als die Zeit um war, ging er zur Tür und fand hier eine Mutter, die wusste, dass er sich im Besitz einer lebenspendenden Medizin befand.

„Schnell!“ flehte sie unter Tränen, „mein Kind ist krank“

Doch als sie hinkamen, war der Knabe tot. Da schüttelte der Reine den Kopf und sprach: „Erst so unhöflich sein und die Leute stören. Und dann so wenig Überlegung, ob der Knabe nicht bereits gestorben sein könne.
D e n Weg hätte ich mir sparen können, wärest du nur etwas rücksichtsvoller gewesen.“

11.)
Es kam eine Frau zum Reinen. Sie besaß einen Topf und einen Deckel. Doch beides passte nicht zusammen.

„Was soll ich tun, um das zu ändern?“ wollte sie wissen.

Der Reine nahm den Topf, warf ihn fort und sprach: „Such dir nun für den Deckel den passenden Topf.“

Die Frau lamentierte: „Du hättest es anders handhaben sollen. Es wäre für mich viel leichter gewesen, einen neuen Deckel als einen neuen Topf zu finden. Auch hätte ich den Topf ohne Deckel eher gebrauchen können, als nun den Deckel ohne Topf.“

Da wurde der Reine unwillig und sprach: „Du erbatest meinen Rat. Ich gab ihn dir. Nun bist du undankbar. Ich half dir, sieh das ein. Dass ich es dir leicht machen soll, davon sagtest du nichts.“

12.)
Ehe der Reine jemand seine Freundschaft schenkte, wünschte er Treue und Zuverlässigkeit dieses Anderen zu erproben. Er sprach: „Lass dich testen. Danach werde ich wissen, ob du meiner Freundschaft würdig bist.“

Also nahm er ihn in den Würgegriff, um seine Standhaftigkeit und Widerstandskraft zu erproben. Der Griff war dergestalt, dass dem Prüfling die Augen aus den Höhlen traten und die Zunge aus dem Munde hing. Doch da er sich der Freundschaft des Reinen wert und würdig erweisen wollte, zwang er sich zu Ausdauer und absoluter Beherrschung. Dann jedoch wurde der Griff des Reinen so fest, dass der Andere darob fast das Bewusstsein verlor, und es machte sich sein Selbsterhaltungstrieb bemerkbar. Im Reflex wurde sein Körper selbstständig und wehrte sich rein instinktiv gegen das kreatürliche Krepieren. Die Hände des Delinquenten fuhren abwehrend in die Höhe. Vielleicht manifestierte sich darin auch nur die Bitte, endlich abzulassen, weil die Grenze der Belastbarkeit erreicht sei. Die aufflatternden Finger trafen das Gesicht des Reinen. Ein Nagel glitt leicht an der Wange vorbei und ritzte sie kaum merklich.

Da ließ der Reine den Halbtoten schmerzerfüllt zu Boden sinken, drehte sich ab und sprach: „Was bist du für ein hinterhältiger Mensch. Ich wollte herausfinden, ob du treu und beständig sein kannst, wollte also nur etwas Gutes. Du aber stehst nicht an, mich zu verletzen.Wie könnte ich eines solchen Menschen Freund sein?“

13.)
Eine Gefährtin fand der Reine, die Ansätze von Werten aufzuweisen schien.

Da erbot er sich, sie auf die lange Wanderung zu seinem Ziel mitzunehmen. Mit einem zum Himmel erhobenen Blick, stark und unbeirrt, ging er also seines Weges, sie an der Hand mit sich führend.

Ihr aber war die Erde näher als der Himmel. Und die ferne Sphärenmusik, welcher der Reine lauschte, drang nicht an ihr Ohr. Sie hörte anderes: Wehgeschrei derer, die vom Fuß des Reinen zermalmt wurden, und die viel zu klein waren, als dass der Reine sie überhaupt bemerkte.

Je mehr er sich erhob und vom Leid des Irdischen sich entfernte, umso mehr wurde sie davon niedergezogen. Gebeugt und ächzend schleppte sie sich neben ihm einher.

Da war er ihrer Schwäche gewahr und spürte, nie würde sie dort ankommen, wo er hinwollte. Sie war ja jetzt schon völlig erschöpft. Da ein wahrhaft Starker sich aber nie durch etwas aufhalten lässt, verließ er sie und ging allein weiter.

Es öffnete sich die Erde, um ihr schwaches Kind in sich einzubetten. Der Reine aber musste sich seinen Weg in den Himmel selber suchen.

14.)
Am Jüngsten Tag, da Gott richtete, kam die Reihe auch an den Reinen. Er wurde aufgefordert, zu bekennen, was an Gut und Böse er auf Erden betrieben hatte.

„Böses“, rief der Reine emphatisch, „tat ich nie. Ich strebte nach dem Guten. Ein Bedürfnis war es mir, die graue Realität mit goldener Illusion zu durchsetzen. Da es die Sehnsucht des Menschen ist, sich in Träume einzuspinnen, half ich ihm dabei. Was jeglicher zu hören wünschte, erzählte ich ihm. Ich besaß das Talent, Märchen zu erzählen, dass jeder sie für Wahrheit hielt.“

„Es wurde mir geklagt, dass du gelogen und betrogen hast, dass du dich über Gefühle hinwegsetztest und mit Menschen wie mit Marionetten spieltest“, wurde ihm entgegengehalten.

„Welch schnöder Undank“, sagte der Reine tief verletzt. „Schon auf Erden nannte man mich so, wenn ich, da ich viele beglücken wollte, diesem oder jenem seine Droge entzog. Märchenerzählern gibt man ein Bakschisch. Mir aber warf man vor, ich würde über Leichen gehen. Doch du, Gott, wirst gerecht urteilen.“

„Dazu brauche ich dein Herz“, sprach Gott. „Es muss gewogen werden. Gib es mir!“

Der Reine suchte in allen Taschen, aber seine Hände blieben leer. „Ich muss es verloren haben, irgendwo!“

Da wies Gott hinaus auf ein unendliches Meer. „Dort unten liegt es“, sprach er. „Auf dem Grunde. Hol es heraus und bring es her.“
Der Reine versuchte, in das Wasser zu steigen, doch es besaß einen so hohen Salzgehalt, sodass es ihm nicht gelingen wollte.

„Was ist das für ein Meer?“ fragte er.

Da sprach Gott: „Es sind die Tränen derer, die du zum Weinen brachtest. Dein Herz ist darin ertrunken. Aber ich brauche es, um gerecht urteilen zu können. Versuch es immer wieder, in die Gründe abzusteigen. Und – lass dir Zeit. Es liegt die ganze Ewigkeit vor dir!“

(Aus „Nimm an, damit du reiner wirst“ erschienen 1974 im Europäischen Verlag/Wien - © Tilly Boesche-Zacharow)

Veröffentlicht / Quelle: 
„Nimm an, damit du reiner wirst“ erschienen 1974 im Europäischen Verlag/Wien