Der Geier

Bild zeigt Franz Kafka
von Franz Kafka

Es war ein Geier, der hackte in meine Füße. Stiefel und Strümpfe hatte er schon aufgerissen, nun hackte er schon in die Füße selbst. Immer schlug er zu, flog dann unruhig mehrmals um mich und setzte dann die Arbeit fort. Es kam ein Herr vorüber, sah ein Weilchen zu und fragte dann, warum ich den Geier dulde. »Ich bin ja wehrlos«, sagte ich, »er kam und fing zu hacken an, da wollte ich ihn natürlich wegtreiben, versuchte ihn sogar zu würgen, aber ein solches Tier hat große Kräfte, auch wollte er mir schon ins Gesicht springen, da opferte ich lieber die Füße. Nun sind sie schon fast zerrissen.« »Daß Sie sich so quälen lassen«, sagte der Herr, »ein Schuß und der Geier ist erledigt.« »Ist das so?« fragte ich, »und wollen Sie das besorgen?« »Gern«, sagte der Herr, »ich muß nur nach Hause gehn und mein Gewehr holen. Können Sie noch eine halbe Stunde warten?« »Das weiß ich nicht«, sagte ich und stand eine Weile starr vor Schmerz, dann sagte ich: »Bitte, versuchen Sie es für jeden Fall.« »Gut«, sagte der Herr, »ich werde mich beeilen.« Der Geier hatte während des Gespräches ruhig zugehört und die Blicke zwischen mir und dem Herrn wandern lassen. Jetzt sah ich, daß er alles verstanden hatte, er flog auf, weit beugte er sich zurück, um genug Schwung zu bekommen und stieß dann wie ein Speerwerfer den Schnabel durch meinen Mund tief in mich. Zurückfallend fühlte ich befreit, wie er in meinem alle Tiefen füllenden, alle Ufer überfließenden Blut unrettbar ertrank.

Veröffentlicht / Quelle: 
Der Geier. In: Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von Paul Raabe. Frankfurt a. M. 1977. S. 405, ISBN 3-596-21078-X.

Interpretation: „Der Geier“ von Franz Kafka

Einleitung

Franz Kafkas Erzählung „Der Geier“ ist ein düsteres, symbolisches Werk, das 1920 veröffentlicht wurde. Die kurze Parabel schildert die Konfrontation zwischen einem Mann und einem Geier, der ihn unaufhörlich attackiert. Die Geschichte ist geprägt von einer intensiven Bildsprache und einer symbolischen Darstellung existenzieller Konflikte. „Der Geier“ lässt sich auf vielfältige Weise interpretieren – von einer Allegorie über menschliches Leiden bis hin zu einer Metapher für die Unausweichlichkeit des Todes. Die folgende Analyse widmet sich der Struktur, Symbolik und den zentralen Themen der Erzählung.


Inhaltliche Analyse

In der Erzählung wird ein Mann von einem Geier attackiert, der ihm immer wieder auf die Füße hackt. Der Mann beschreibt seinen Versuch, sich mit dem Tier zu arrangieren, indem er es gewähren lässt, da die Angriffe zunächst nicht tödlich erscheinen. Als ein Passant vorschlägt, das Tier zu erschießen, reagiert der Geier darauf mit einem tödlichen Angriff auf den Mann. Die Erzählung endet abrupt mit dem Tod des Protagonisten.

Die Handlung ist kurz und konzentriert, doch die Themen und Symbole sind tiefgreifend. Der Geier steht als zentraler Akteur im Mittelpunkt und verkörpert eine zerstörerische, unerbittliche Kraft. Der Mann hingegen scheint passiv und resigniert zu sein, unfähig, sich gegen das Tier zur Wehr zu setzen. Der Passant, der als Außenstehender auftritt, bietet zwar eine mögliche Lösung an, doch diese verschärft letztlich die Situation.

Die Interaktion zwischen dem Mann, dem Geier und dem Passanten zeigt eine Dynamik von Gewalt, Ohnmacht und fataler Hilflosigkeit. Der Mann akzeptiert sein Schicksal nahezu stoisch, während der Geier als unaufhaltsame Bedrohung agiert.


Formale Analyse

1. Erzählperspektive:
Die Erzählung ist in der Ich-Perspektive verfasst, was die subjektive Erfahrung des Mannes und die emotionale Intensität der Erzählung betont. Der Leser wird direkt in die Perspektive des Opfers gezogen und erlebt die Attacken und die Resignation hautnah.

2. Stil und Sprache:
Kafka verwendet eine klare, reduzierte Sprache, die die surrealen Elemente der Geschichte umso eindringlicher wirken lässt. Die Sachlichkeit, mit der die grausame Situation beschrieben wird, verstärkt die Wirkung der existenziellen Bedrohung.

3. Struktur:
Die Erzählung ist knapp und konzentriert. Der Konflikt wird direkt eingeführt, und die Handlung entwickelt sich schnell zu einem unvermeidlichen Höhepunkt. Diese straffe Struktur unterstreicht die Ausweglosigkeit der Situation.


Symbolik und Themen

1. Der Geier als Symbol:
Der Geier kann als Symbol für verschiedene Aspekte interpretiert werden:

  • Schicksal oder Tod: Der Geier ist eine allgegenwärtige, unvermeidbare Bedrohung, die den Mann langsam zerstört.
  • Innere Konflikte: Das Tier könnte auch für die inneren Ängste, Schuldgefühle oder Zerstörungskräfte des Protagonisten stehen.
  • Gesellschaftliche Unterdrückung: Der Geier kann als Metapher für eine äußere Macht interpretiert werden, die den Menschen ausbeutet oder unterdrückt. Diese Mehrdeutigkeit macht die Geschichte kafkaesk, da sie den Leser mit einer düsteren, surrealen und beklemmenden Welt konfrontiert, in der klare Antworten oder Lösungen fehlen.

2. Der Mann als Opfer:
Der Mann steht für die passive Akzeptanz des Leidens. Seine Untätigkeit und Resignation lassen ihn als Symbol für die menschliche Ohnmacht gegenüber größeren Mächten erscheinen. Er stellt die Frage, wie Menschen mit unausweichlichem Leid umgehen.

3. Der Passant als Vermittler:
Der Passant repräsentiert die Möglichkeit des Eingreifens oder der Lösung, die jedoch zu spät kommt oder die Situation verschärft. Seine Rolle zeigt, wie schwer es ist, externe Hilfe in existenziellen Krisen wirksam zu machen.

4. Gewalt und Ohnmacht:
Die Erzählung thematisiert die Dynamik von Gewalt und die Reaktion darauf. Die Passivität des Mannes und die Grausamkeit des Geiers bilden einen Kontrast, der die Ausweglosigkeit und Tragik des Konflikts unterstreicht.


Interpretation

„Der Geier“ ist eine vielschichtige Allegorie, die Kafkas Themen von Ohnmacht, Schuld und unvermeidbarem Leid aufgreift. Der Geier steht für eine zerstörerische Kraft – sei es das Schicksal, der Tod oder die menschliche Psyche –, die den Protagonisten unaufhaltsam zerfleischt. Die Resignation des Mannes kann als Kritik an der menschlichen Neigung zur Passivität angesichts von Bedrohungen verstanden werden. Gleichzeitig wirft die Erzählung Fragen nach dem Sinn von Interventionen auf, da der Versuch des Passanten, zu helfen, letztlich den Tod des Mannes beschleunigt.

Kafka schafft in diesem kurzen Text eine düstere Welt, die den Leser zu existenziellen Überlegungen zwingt. Die Erzählung kann sowohl als persönliche Reflexion über das Leiden als auch als universelle Metapher für die menschliche Condition gelesen werden. Die unvermeidliche Tragödie am Ende betont die Sinnlosigkeit von Widerstand und die Unausweichlichkeit des Todes, die zentrale Themen in Kafkas Werk sind.


Schluss

„Der Geier“ ist eine meisterhafte Parabel, die auf wenigen Seiten eine bedrückende Welt voller Symbolik und existenzieller Bedeutung schafft. Durch die prägnante Sprache und die Vieldeutigkeit der Bilder fordert Kafka den Leser heraus, eigene Interpretationen und Antworten zu finden. Die Erzählung bleibt ein eindrucksvolles Beispiel für Kafkas Fähigkeit, komplexe Themen in eine scheinbar einfache, aber tiefgründige Erzählstruktur zu kleiden.

Prosa in Kategorie: 
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