Vor der Tür

Bild von Tilly Boesche-Zacharow
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Im Treppenhaus ging ganz plötzlich das Licht aus. Es geschah von einer zur anderen Sekunde.  Völlige Dunkelheit umgab ihn. Er hatte gerade den rechten Fuß auf die nächst höher gelegene Stufe setzen wollen und erstarrte in dieser Bewegung. Wenn man ihn hätte sehen können, würde es wie eine geradezu grotesk wirkende  Position gewirkt haben.

   Wie schwebend - denn er stand auf einem Bein, den Oberkörper ein wenig vorgeneigt, während der andere Fuß beinahe noch wie verwurzelt auf der unteren Stufe auflag und sich erst instinktiv bereit machte, die Ferse abzulösen, während sich das Kniegelenk voll der Tatsache bewusst war, dass die Schwere des ganzen Körpers in dieser einen Sekunde nur auf seiner Festigkeit und seinem Durchhaltevermögen lastete.

   Kein Pantomime hätte absichtlich besser diese realistische Haltung einnehmen können.

   Es war so plötzlich dunkel geworden, dass er nicht zu sagen vermochte, was eigentlich geschehen war. Hatte die Elektrizität im ganzen Stadtviertel versagt? War es nur die Brüchigkeit  der Anlage in diesem Gebäude, oder lag etwa der Totalausfall seiner eigenen, ganz individuellen Sehfähigkeit vor? War es für alle andere Welt hell und sichtbar geblieben, während nur er wie ein Blinder mit ausgebreiteten Armen dastand und nicht weiter wusste?

   Er hatte noch nicht einmal genaue Kenntnis, wo er sich befand. Ganz unbekannt war das Haus ihm zwar nicht, aber heute war er so in Gedanken gewesen, dass ihm entgangen war, wie viel Stockwerke er schon hinter sich gebracht hatte …

   Wo war er? In der ersten, der zweiten oder der dritten Etage? An wie viel Türen war er gedankenverloren bereits vorbei gekommen?

    Plötzlich blitzte in ihm die Frage auf, ob er sich überhaupt im richtigen Gebäude befand und nicht geistesabwesend in irgendein ihm völlig fremdes Haus geraten sei.

   Die Panik, die blitzartig in ihm entstand, ließ ihn tief einatmen. Er suchte sich zu beruhigen, er würde der Sache schon noch auf den Grund kommen. Den in der Luft schwebenden Fuß setzte er nun fest auf die vorgesehene Stufe und ließ den zweiten folgen. Endlich hatte er wieder unter beiden Füßen denselben festen Unterboden. Das Gefühl, sich ausbalanciert zu haben, ließ ihn ein Teil der Ruhe zurückgewinnen.  Er breitete die Arme aus und rückte Fußbreit um Fußbreit nach rechts, wo er die Wand vermutete. Denn wie immer war er die Treppe in der Mitte heraufgestiegen. Er brauchte nicht den Halt des Geländers. Schließlich war er noch kein Greis, der sich mühselig daran hoch hangeln musste.

   Seine Fingerkuppen berührten bald wirklich etwas Festes. Na also, das war doch schon etwas. Er spitzte zufrieden den Mund und – zuckte zusammen, weil sich von seinen Lippen ein kleiner Pfeifton löste. Na, er war schon ein Held – ließ sich durch ein von ihm selbst verursachtes Geräusch verunsichern …

   Was war nur in ihn gefahren, dass ein einfacher Stromausfall ihn so aus dem Gleichgewicht zu bringen vermochte?

   Er legte das Innen der Hand fest auf die erspürte Wandfläche. Fast schien nun schon wieder alles in bester Ordnung zu sein. Schritt für Schritt tasteten sich die Füße Stufe um Stufe höher. Noch nie war ihm ein Treppenabsatz so lang vorgekommen – er schien einfach endlos zu sein.

   `Wie die Treppe zum Himmel´, kam ihm der Gedanke. Aber auch sie würde ein Ende nehmen, diese Treppe zum Himmel. Und dann würde sich ihm auch nicht gleich alles offenbaren, sondern es würde eine Tür da sein, eine Tür, die erst aufgemacht werden musste. Nicht von ihm, denn er besaß keinen Schlüssel. Sie musste von innen aufgestoßen werden, und er hatte aufzupassen, dass sie ihm nicht in das Gesicht schlug. Denn natürlich besaß der Himmel eine „Rauswerfertür“, so wie sie in Lokalitäten üblich ist, um ungebetene Gäste schnell und unkompliziert los zu werden.

   Seine Fingerspitzen, eigenartig sensibilisiert, ertasteten einen Vorsprung, während die Füße keinen glatten Boden mehr unter sich fanden. Eigenartigerweise wusste er plötzlich mehr  über dieses Gebäude. Das Haus hatte sich seit seinem letzten Besuch verändert …Es schien in den oberen Geschossen eingestürzt zu sein. Geröll und Steinbrocken befanden sich unter seinen Sohlen, und damit erklärte sich auch die Tatsache des zerstörten  Elektrizitätsnetzes-

   Wenn man ein Problem erkannt hat, scheint auch die Lösungsfrage, zumindest der Logik nach, einer Antwort nahe zu sein.

   Er nahm beide Hände zu Hilfe, stand einfach da und ließ nur die Fingerspitzen über die erreichte Wand gleiten. Fast entschlüpfte ihm erneut ein zufriedener Pfeifton. Er ertastete eine Türfüllung, deren Rahmengeviert – einmal breit mal hoch – er durch den Tastsinn der zweimal vier Finger – die Daumen glitten bereitwillig  aber untätig mit – in sich aufnahm.

   Während früherer Besuche war ihm an den Türen des Hauses eigentlich nie eine Besonderheit aufgefallen; jetzt, von völliger Dunkelheit umgeben, stellte er – sich von seinen Fingerspitzen inspirieren lassend – eine gewisse Schönheit und Eleganz fest. Es handelte sich um geschnitzte Rahmen mit Wölbungen und Zierraten, die seine Fantasie beflügelten, so dass er imstande war, sich vorzustellen, sie besäßen golden-braune, elfenbeinfarbige Leisten und Intarsien.

   Es waren ehrwürdige Kostbarkeiten, deren er nun gewahr wurde. Kostbarkeiten! Und das in einem so alten, baufälligen Gebäude?

   Nun, immerhin war auch dieses Gebäude einmal erst geplant, dann gebaut, schließlich einmal jung gewesen. Dass es ihm selbst stets in gewisser Weise alt und morsch vorgekommen war, lag wahrscheinlich an seiner eigenen Jugend. Trotzdem hätte er nie daran gedacht, seinen Einsturz noch erleben zu müssen.

   Welcher Baum denkt – in voller Blüte stehend - an seine absterbenden Zweige, die durch Herbstzeit und Winter den Tod finden werden?

   Er lächelte, weil er sich immer noch als blühender Baum vorkam. Aber jetzt und hier im zusammengestürzten Obergeschoß eines uralten Gebäudes verging ihm das Lächeln immer mehr. Die wunderschöne Tür, an der er sich festhielt, auch sie war zum Untergang bestimmt. All ihre Zierde half ihr nicht, den sie begrabenden Geröllmassen zu widerstehen.

   Er stellte sich vor, dass von dem Haus nur noch ein paar Stufen und diese Tür vorhanden waren ...

   Eine Tür, von der er nicht wusste, was sich dahinter verbarg. Wie oft war er an Türen vorbeigekommen, die verschlossen und feindlich wirkten. Was mochte hinter ihnen vor sich gehen? Gab es auf der anderen Seite dieser Türen Harmonie oder Brutalität? Himmel oder Hölle? Einsamkeit oder Vereinigung? Gefangenschaft oder unendliche Freiheiten?

   Öffnen müsste man die Türen können, besser noch, sie müssten einem geöffnet werden …

   Er hob die Hand und schlug gegen die Tür zum Zeichen, dass er Einlass begehrte. Aber es blieb still, und je stiller es um ihn war, umso mehr vollzog sich in seinem Inneren ein Aufstand. Er wusste, er brauchte nichts anderes als eine offene Tür. Sie musste sich ihm öffnen, - sie musste …

   Er wollte wissen, endlich wissen …!

   Seine Hand, seine beiden Hände ballten sich zu Fäusten, die abwechselnd und panisch gegen die Türfüllung trommelten.

   „Aufmachen! Aufmachen! Mach auf – auf, - endlich auf!“

   Seine Stimme wurde lauter, überschlug sich, konnte nicht mehr lauter werden, überschlug sich im eigenen Diskant, wurde krächzend, fiel ab, verging, wurde zum Ächzen, Stöhnen, Wimmern, zum Flüstern.

   Er begehrte nur Einlass, doch nunmehr stimmlos, - die Kraft, einen Ton hervorzubringen, war zu Ende …der schweigende Schrei begann …

   Seine Handflächen rutschten abwärts, sie glitten nach unten, seine Fußgelenke knickten ein. Beim Sturz auf den Boden hörte er deutlich den Bruch der Kniescheiben. Er lag auf allen Vieren vor der geschlossenen Tür, und nur ganz tief in seinem Innersten gab es des Schreies Nachhall: „Aufmachen! Auf…!“

   Ein Hauch streifte ihn, als würde sich ein Spalt geöffnet haben, der Spalt zur Weite, zur anderen Seite der Tür, - er spürte, wie sich seine Lippen teilten – zur neuen Hoffnung, - zum Lächeln, zum Dank –

   Die Tür – sie glitt zur Seite – plötzlich war das Licht wieder da, das ganze Treppenhaus war heller denn je erleuchtet , – alles konnte er sehen, alles, - die Stufen, die er sich mühsam herauf getastet hatte, die Wand, die ihm Halt geboten hatte; Und aus der nun weit offenen Tür strömte Licht, ein gleißender wärmender Schein. Da drinnen war Sicherheit, Schutz, Trost, das Ziel, sein Ziel. Mehr wollte er nicht. Oder doch?  Eine Hand streckte sich ihm entgegen, um die Seinige zu erfassen. Nun griffen zwei Hände mit der gleichen Struktur nach einander – seine immer gewussten eigenen Hände …

   „Endlich bist du da“, sagte eine Stimme …

   Er kannte sie, - er kannte sie gut, sie war das Ziel am Ende der Treppe, - ganz hoch oben …

   Seinen Lippen entglitt ein leiser Pfeifton. Aber nun fühlte er sich dadurch nicht erschreckt. Im Gegenteil, - ganz im Gegenteil!

   Die Tür öffnete sich ganz, er trat ein. Er nahm den Beutel von der Schulter, knotete die Verschnürung auf und sagte: „Ja, ich bin wieder hier, und sieh, deine Leihgabe,  sie ist unversehrt. Ich gebe sie dir wieder. Nimm, nimm mein  Leben zurück. Es war gut, und ich sage  dir  Dank dafür.“