Kleiner Totentanz / Prosaisch

Bild zeigt Tilly Boesche-Zacharow
von Tilly Boesche-Zacharow

Das Mädchen kam die Straße entlang. Es war blaß, und seine Haare wirkten wie stumpfes Gold. Die Kleider, die es trug, waren nicht ganz modern, wie es Mädchen ihres Alters sonst zu tragen pflegten. Es war die Zeit Mary Quandts, der Mini-Göttin. Das Mädchen war jung, sehr jung, von einer nicht bestimmbaren Jugend. Es hätte achtzehn sein können. Doch ebenso gut achtzig.

„Kiek mal die!" sagte ein Bursche, vergammelt, und auf den Stufen der Kirche hockend, wer weiß wie lange schon. Nur manchmal gelang es ihm, sich aus der stumpfen Lethargie zu reißen und die Vorbeigehenden mit unflätigen Redensarten zu bedenken. Das waren solche, die sein Interesse erregten, wie jetzt das Mädchen. „Kiek mal, die sieht aus, als hätte sie seit vierzehn Tagen nichts in die Futterluke bekommen." „Das ist doch nichts Besonderes!" sagte sein Kumpel und verzog den Mund, ohne dass es hinter dem Bartgestrüpp zu sehen gewesen wäre. „Wird wohl auch gefixt haben. Sieht aus, als wäre sie auf dem Trip."

Die beiden gehörten zu den Intellektuellen und waren dabei, als Christus gestürzt wurde, fast zweitausend Jahre nach seinem offiziellen Tod. Natürlich handelte es sich nur noch um die Christusfigur, nicht um den Menschen. Der hatte sich — erster Gammler und Bartträger — lange davongemacht, war im Himmel, eben high, auf einem Trip, würde wohl nicht mehr wiederkommen. Das Mädchen achtete auf nichts, schien ein festes Ziel zu haben. Die Stunden tanzten, die Füße auch, und endlich war das Mädchen dort, wo es hinwollte. Es stand vor einer Tür, und ohne dass es sie zu öffnen brauchte, ging es hindurch und stieg Stufen einer seidenen Leiter. Vor einer herzförmigen Öffnung blieb es stehen. Hier gab es plötzlich Barrieren, die nicht einmal der Schwerelosigkeit des Mädchens weichen wollten. Das Klopfen an das Herz geschah leise, fast unhörbar. Dennoch dröhnte es. Klang wie eine Glocke. War aus Metall. Das Mädchen wartete geduldig. Hier war es am Ziel, hier war es daheim, hier begehrte es Einlaß. Nur hier.

Schritte erklangen. Der, dem das Herz gehörte, kam. Das bleiche Gesicht des Mädchens rötete sich, erhielt Leben, Impuls, Antrieb, als würde ein neues Dasein geboren. Die Hände hielten die schmale Brust, so wenig sexbetont und dennoch alles bergend. Das Herz öffnete sich. Der, dem es gehörte, schaute heraus, war außerhalb dieses Herzens. Sein Lächeln gerann, als er das Mädchen sah, das er nicht kannte. Es schien, als hätte er jemand ganz anders erwartet. Dennoch war er höflich, ein gut erzogener Mensch, besaß Kinderstube. „Was gibt es? Hab keine Zeit. Kaufe nichts!" Das Mädchen lächelte: „Ich habe nichts abzugeben, was man mit Geld bezahlen kann." „Keine Zeit!" murmelte er ungeduldig, „erwarte Besuch!" „Ich bin ja gekommen!" sagte das Mädchen. Der junge Mann fühlte sich irritiert. „Fastnacht ist lange vorbei!" sagte er. „Was soll der Mummenschanz?" „Das ganze Leben ist ein Mummenschanz!" murmelte das Mädchen. „Wußtest du das nicht?" „Ich weiß nur, dass Sie seltsam sind!" erwiderte er und wußte nicht, wie er den ungebetenen Gast loswerden sollte. Das Mädchen hob den Kopf. Seine Augenhöhlen brannten. „In vielen Nächten, " flüsterte es, „hast du nach mir gerufen. Das kannst du kaum vergessen haben. Einen langen Weg, einen sehr langen Weg hab ich zurücklegen müssen, bis ich bei dir war. Und nun bin ich müde. Laß mich ausruhen."

Er blieb höflich, obwohl es ihm nicht leicht fiel. „Ich kenne Sie nicht und kann nicht nach Ihnen gerufen haben," sagte er. „Sieh mich doch nur richtig an," bat das Mädchen. „In deinen Träumen hast du mich oft gesehen. Du mußt mich erkennen. Sieh, ich erkenne dich auch, und du bist ein ganz anderer, als du in schlaflosen Nächten warst, wenn du dich sehntest — nach mir!" Er sah sie wirklich an. Und plötzlich schien ihm, als schäle sich aus ihren Zügen eine Vertrautheit heraus. Er überlegte, wovon er manchmal geträumt, wonach er sich gesehnt hatte. War es nicht der Wunsch, der Liebe, der wahren Liebe zu begegnen? „Laß mich in dein Herz!" bat sie. „Nun weißt du, wer ich bin!" „Die Liebe als personifizierte Gestalt," murmelte er, „das ist so unglaublich, so phantastisch. Das gibt es doch gar nicht. Das gibt es ebenso wenig wie den sichtbaren Tod." Das Mädchen lächelte leicht. „Du bist intelligent und doch so schlecht informiert," raunte es. „Mitunter nimmt die Liebe sogar die Gestalt des Todes an oder umgekehrt."

Der junge Mann schluckte. Er wollte in die Wirklichkeit zurückkehren. Schritte, die im Treppenhaus aufklangen, halfen ihm dabei. Da kam jemand, der von ihm erwartet wurde, jemand aus Fleisch und Blut, der nicht von der Liebe redete, sondern Sex machte, handfest und ohne Utopie und Gefühl. „Lassen Sie mich mit Ihrem Mumpitz zufrieden," sagte er, „und gehen Sie. Das ist besser!" Die junge Dame, die „sehr modern und leichtgeschürzt" die Treppe heraufkam, fühlte sich angesprochen. „Hallo, Schatz!" rief sie fröhlich. „Mit wem unterhältst du dich? Mit dir selber?" „Nein! Mit der da!" sagte er und wies auf das blasse Mädchen, das sich Liebe nannte und vom Tod sprach. Die Schöne zuckte die Achseln. „Ich sehe niemand!" sagte sie griesgrämig. „Mir scheint, du bist betrunken oder hast gehascht!" „Red nicht so mit mir!" sagte er entrüstet. „Man kann doch nicht jemand so etwas unterstellen, nur weil er sich mit einem anderen unterhält —" „der nicht vorhanden ist!" sagte die Schöne schnippisch. „Aber meinetwegen. Ich gehe wieder, und du unterhalte dich mit der Luft." Damit drehte sie sich um und stieg abwärts.

Der junge Mann wandte sich dem stillen Mädchen zu. „Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben," sagte er ärgerlich. „Wer weiß, ob sie wiederkommt. Und es kostete einige Mühe, sie herzubeordern." Das Mädchen sah ihn an. „Sei nicht traurig," sagte es. „Du bist ja nicht allein. Ich bleibe bei dir, wenn du es willst." Damit schmiegte es sich an ihn, denn sein Herz, hinter dem der junge Mann stand, hatte sich geöffnet und ließ ihr Zutritt. Ganz sonderbar wurde ihm plötzlich. Er spürte sie in seinen Armen und spürte, dass sie in ihn überging, dass sie eins wurde mit ihm. Aber es war kein Getriebenwerden seines Körpers, das ihn nach ihr verlangen ließ. Es war eher, als sei er sehr durstig gewesen, und nun böte sich ihm endlich die Labe, die er genoß. „Ich bin froh, daß du kamst!" murmelte er. „Werden wir immer zusammenbleiben?" „Natürlich!" erwiderte sie zärtlich. „Und du wirst mit mir kommen, nicht wahr, dorthin, wohin ich dich führe!" Ihm war, als fiele alles ab, das ihn an die irdische Materie band. Er fühlte sich leicht und schwerelos. Tanzen hätte er können, immerzu tanzen! Gemeinsam mit ihr. „Nimm mich!" sagte er. Da nahm sie ihn in ihren Besitz...

Die junge Schöne reute ihre Eile, ihr Fortlaufen. Nach einer halben Stunde kam sie wieder, denn der junge Mann war ein gar prächtiger Liebhaber gewesen. Auf der Schwelle seiner Wohnung fand sie ihn — hingestreckt und leblos. Der Arzt stellt fest — Tod durch Herzversagen! „Ich hatte doch gleich das Gefühl, als würde etwas nicht mit ihm stimmen," sagte die junge Schöne. „Stellen Sie sich vor, Doktor, er sah Gestalten, die es gar nicht gab. Er sprach mit ihnen. Ich bin froh, dass er nicht in meiner Gegenwart gestorben ist. Man bedenke, es hätte ihn beim Liebesakt erwischt. Die Komplikationen, diese Unannehmlichkeiten. Und einen Orgasmus hätte ich bei meiner Empfindsamkeit in solchem Fall wohl kaum bekommen." Auf den Kirchenstufen saßen immer noch die beiden Gammler. Es war nicht viel Zeit seit vorher vergangen. Dass eine Welt untergegangen war, wußten sie nicht. Als die Schöne vorbeitänzelte, pfiffen sie, und sie blieb stehen. Um sich abzulenken, ließ sie sich auf ein Gespräch ein. „Die ist was anderes," sagte der Erste, „als die von vorhin, weißt du noch? Wir nehmen sie mit und teilen sie. Was hältst du davon?" „Okeh," sagte der Andere, der stark genug gewesen war, Christus zu stürzen. „Die ist gut, die verkraftet uns beide, denk ich!"

Dabei war von Denken bei ihnen wohl kaum die Rede -

Veröffentlicht / Quelle: 
"Auf der Suche nach der Liebe", erschienen im Verlag "Der Karlsruher Bote", 1972
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