Homer und die klassische Philologie

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von Friedrich Nietzsche

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Über die klassische Philologie gibt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung. Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst. Die Ursache liegt in dem vielspältigen Charakter derselben, in dem Mangel einer begrifflichen Einheit, in dem unorganischen Aggregatzustande verschiedenartiger wissenschaftlicher Tätigkeiten, die nur durch den Namen »Philologie« zusammengebunden sind. Man muss nämlich ehrlich bekennen, dass die Philologie aus mehreren Wissenschaften gewissermassen geborgt und wie ein Zaubertrank aus den fremdartigsten Säften, Metallen und Knochen zusammengebraut ist, ja dass sie außerdem noch ein künstlerisches und auf ästhetischem und ethischem Boden imperativisches Element in sich birgt, das zu ihrem rein wissenschaftlichen Gebaren in bedenklichem Widerstreite steht. Sie ist ebenso wohl ein Stück Geschichte als ein Stück Naturwissenschaft als ein Stück Ästhetik: Geschichte, insofern sie die Kundgebungen bestimmter Volksindividualitäten in immer neuen Bildern, das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen begreifen will: Naturwissenschaft, so weit sie den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt zu ergründen trachtet: Ästhetik endlich, weil sie aus der Reihe von Altertümern heraus das sogenannte »klassische« Altertum aufstellt, mit dem Anspruche und der Absicht, eine verschüttete ideale Welt heraus zu graben und der Gegenwart den Spiegel des Klassischen und Ewigmustergültigen entgegen zu halten. Dass diese durchaus verschiedenartigen wissenschaftlichen und ästhetisch-ethischen Triebe sich unter einen gemeinsamen Namen, unter eine Art von Scheinmonarchie zusammengetan haben, wird vor allem durch die Tatsache erklärt, dass die Philologie ihrem Ursprunge nach und zu allen Zeiten zugleich Pädagogik gewesen ist. Unter dem Gesichtspunkte des Pädagogischen war eine Auswahl der lehrenswertesten und bildungförderndsten Elemente geboten, und so hat sich aus einem praktischen Berufe, unter dem Drucke des Bedürfnisses jene Wissenschaft oder wenigstens jene wissenschaftliche Tendenz entwickelt, die wir Philologie nennen.

Die genannten verschiedenen Grundrichtungen derselben sind nun in bestimmten Zeiten bald mit stärkerem bald mit schwächerem Nachdrucke herausgetreten, im Zusammenhang mit dem Kulturgrade und der Geschmacksentwicklung der jeweiligen Periode; und wiederum pflegen die einzelnen Vertreter jener Wissenschaft die ihrem Können und Wollen entsprechendsten Richtungen immer als die Zentralrichtungen der Philologie zu begreifen, so dass die Schätzung der Philologie in der öffentlichen Meinung sehr abhängig ist von der Wucht der philologischen Persönlichkeiten.

In der Gegenwart nun d. h. in einer Zeit, die fast in jeder möglichen Richtung der Philologie ausgezeichnete Naturen erlebt hat, hat eine allgemeine Unsicherheit des Urteils überhand genommen und zugleich damit eine durchherrschende Erschlaffung der Teilnahme an philologischen Problemen. Ein solcher unentschiedener und halber Zustand der öffentlichen Meinung trifft eine Wissenschaft insofern empfindlich, als die offenen und geheimen Feinde derselben mit viel größerem Erfolge arbeiten können. An solchen Feinden hat aber gerade die Philologie eine grosse Fülle. Wo trifft man sie nicht, die Spötter, die immer bereit sind, den philologischen „Maulwürfen“ einen Hieb zu versetzen, dem Geschlecht, das das Staubschlucken ex professo treibt, das die zehnmal aufgeworfene Erdscholle noch das elftemal aufwirft und zerwühlt. Für diese Art von Gegnern ist aber doch die Philologie ein freilich unnützer, immerhin harmloser und unschädlicher Zeitvertreib, ein Objekt des Scherzes, nicht des Hasses. Dagegen lebt ein ganz ingrimmiger und unbändiger Hass gegen die Philologie überall dort, wo das Ideal als solches gefürchtet wird, wo der moderne Mensch in glücklicher Bewunderung vor sich selbst niederfällt, wo das Hellenentum als ein überwundener, daher sehr gleichgültiger Standpunkt betrachtet wird. Diesen Feinden gegenüber müssen wir Philologen immer auf den Beistand der Künstler und der künstlerisch gearteten Naturen rechnen, da sie allein nachfühlen können, wie das Schwert des Barbarentums über dem Haupte jedes Einzelnen schwebt, der die unsägliche Einfachheit und edle Würde des Hellenischen aus den Augen verliert, wie kein noch so glänzender Fortschritt der Technik und Industrie, kein noch so zeitgemässes Schulreglement, keine noch so verbreitete politische Durchbildung der Masse uns vor dem Fluche lächerlicher und skythischer Geschmacksverirrungen und vor der Vernichtung durch das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen schützen können.

Während von den genannten beiden Klassen von Gegnern die Philologie als Ganzes scheel angesehen wird: giebt es dagegen zahlreiche und höchst mannichfaltige Anfeindungen bestimmter Richtungen der Philologie, Kämpfe von Philologen gegen Philologen ausgekämpft, Zwistigkeiten rein häuslicher Natur, hervorgerufen durch einen unnützen Rangstreit und gegenseitige Eifersüchteleien, vor allem aber durch die schon betonte Verschiedenheit, ja Feindseligkeit der unter den Namen Philologie zusammengefassten, doch nicht verschmolzenen Grundtriebe.

Die Wissenschaft hat das mit der Kunst gemein, dass ihr das Alltäglichste völlig neu und anziehend, ja wie durch die Macht einer Verzauberung als eben geboren und jetzt zum ersten Male erlebt erscheint. Das Leben ist wert gelebt zu werden, sagt die Kunst, die schönste Verführerin; das Leben ist wert, erkannt zu werden, sagt die Wissenschaft. Bei dieser Gegenüberstellung ergiebt sich der innere und sich oft so herzzerreissend kundgebende Widerspruch im Begriff und demnach in der durch diesen Begriff geleiteten Tätigkeit der klassischen Philologie. Stellen wir uns wissenschaftlich zum Altertum, mögen wir nun mit dem Auge des Historikers das Gewordene zu begreifen suchen, oder in der Art des Naturforschers die sprachlichen Formen der altertümlichen Meisterwerke rubrizieren, vergleichen, allenfalls auf einige morphologische Gesetze zurückbringen: immer verlieren wir das wunderbar Bildende, ja den eigentlichen Duft der antiken Atmosphäre, wir vergessen jene sehnsüchtige Regung, die unser Sinnen und Geniessen mit der Macht des Instinktes, als holdeste Wagenlenkerin, den Griechen zuführte. Von hier aus soll auf eine ganz bestimmte und zunächst sehr überraschende Gegnerschaft aufmerksam gemacht werden, die die Philologie immer am meisten zu bedauern hat. Eben nämlich aus denjenigen Kreisen, auf deren Beistand wir am sichersten rechnen müssen, der künstlerischen Freunde des Altertums, der warmen Verehrer hellenischer Schönheit und edler Einfalt pflegen mitunter verstimmte Töne laut zu werden, als ob gerade die Philologen selbst die eigentlichen Gegner und Verwüster des Altertums und der altertümlichen Ideale seien. Den Philologen warf es Schiller vor, dass sie den Kranz des Homer zerrissen hätten. Goethe war es, der, früher selbst ein Anhänger der Wolfischen Homeransichten, seinen «Abfall» in diesen Versen kundgab: «Scharfsinnig habt Ihr, wie Ihr seid, von aller Verehrung uns befreit, und wir bekannten überfrei, dass Ilias nur ein Flickwerk sei. Mög’ unser Abfall niemand kränken; denn Jugend weiß uns zu entzünden, dass wir ihn lieber als

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Ein Vortrag von Friedrich Nietzsche in Basel/1869 Quelle: www.nietzschesource.org

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